1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Intensivpflegekräfte am Limit

19. November 2021

Die vierte Corona-Welle trifft Deutschland mit voller Wucht. Auf den Intensivstationen gibt es zu wenig Personal. Die Folgen des “Pflexits“ sind verheerend.

https://p.dw.com/p/43GXd
Coronavirus - Dresden Corona-Intensivstation
Corona-Intensivstation (hier im Universitätsklinikum Dresden)Bild: Robert Michael/dpa/picture alliance

Ärzte und Pflegende am Limit

Jeden Morgen um 6 Uhr, wenn Intensivpflegerin Alexandra Heisterkamp auf der Station 19A Ost im Universitätsklinikum Münster ihre Schicht beginnt, fällt Ihr Blick auf drei Betten, die im Kleinen ziemlich gut Deutschlands Problem im Großen abbilden. Die drei Betten sind sogenannte Intensivbetten. Und sie sind leer.

"Wir können sie nicht besetzen, weil uns das Personal fehlt. Auf der ganzen Ebene im Krankenhaus sind noch mehr", sagt sie, "ich sehe auch nicht, dass da noch Personal kommen wird, da ist kein Land in Sicht. Das ist keine gute Ausgangslage für das, was da auf uns zukommt."

Pflegenotstand überall

Drei Intensivbetten weniger sind es auf Heisterkamps Station, 6300 betreibbare Intensivbetten fehlen ganz Deutschland im Vergleich zum Vorjahr.In etwa 50 Kreisen, Corona-Hotspots, sind alle Betten belegt, vor allem in Bayern und Baden-Württemberg. Die Folge des "Pflexit", einer kreativen Wortschöpfung aus Pflege und Exit.

Infografik COVID-19 Intensivstationen DE

Die Intensivbetten stehen zwar frisch bezogen in den deutschen Krankenhäusern, was fehlt, ist aber das Personal. 135 Intensivbetten betrieb die Uniklinik Münster noch zu Beginn der Pandemie, wegen des Pflegemangels sind es aktuell gerade einmal 110. Weil auch dort Dutzende Pflegekräfte dem Job den Rücken kehrten.

Auch nach fast zwei Jahren Pandemie geringe Wertschätzung für die Pfleger

Für Alexandra Heisterkamp ist das kein Thema, sie arbeitet seit 17 Jahren in der Uniklinik, jetzt in Teilzeit. Doch auch die Intensivpflegerin kann nicht begreifen, dass Deutschland die vierte Corona-Welle so sträflich unterschätzt hat. "Man bekommt da schon ein bisschen Wut", sagt sie.

Alexandra Heisterkamp, Intensivpflegerin an der Universitätsklinik in Münster
"Ich klatsche auch nicht, wenn der Pilot mich erfolgreich zur Ferieninsel bringt" - Alexandra Heisterkamp zum ApplausBild: Universitätsklinikum Münster

Zornig ist sie auch darüber, dass ihr Beruf hierzulande nach fast zwei Jahren Pandemie immer noch eine so geringe Wertschätzung genießt: "Wir haben eine ganz merkwürdige Wahrnehmung in der Gesellschaft, was Pflege eigentlich leistet. Die Menschen sollten sich einmal fragen: 'Wie möchte ich behandelt werden, wenn ich hier liege oder am Ende meines Lebens stehe?'"

Heisterbachs Sprachrohr ist die DIVI, die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin. In den letzten Wochen und Monaten müssen sich die Ärzte, Pflegekräfte und Therapeuten so vorgekommen sein wie die einsamen Rufer in der Wüste. Immer wieder hatte die Organisation vor dramatisch steigenden Corona-Infektionszahlen im Herbst und Winter und einer Überlastung der Pflegekräfte gewarnt.

DIVI warnt und warnt vor der vierten Welle - vergeblich

Vielerorts liegen die Nerven blank, derzeit erreichen die DIVI Mails wie diese: "Die Politik lässt uns ausbluten, nach der vierten Welle interessiert sich keiner mehr für die Pflege!" An die wichtigsten Köpfe der Ampel-Koalitionäre schickte sie deswegen eine Art Aktionsplan, eine "Stellungnahme für die Zukunft der Pflege" mit konkreten Vorschlägen auch dahingehend, den "Pflexit" endlich zu stoppen. Die Reaktionen laut DIVI: überschaubar.

"Wir müssen jetzt dringend ein Signal der Wertschätzung senden, das bei den Belegschaften ankommt, damit wenigstens die Pflegekräfte, die wir jetzt noch haben, auch im Beruf bleiben. Und das meine ich nicht nur für die Intensivpflegekräfte, für alle Pflegekräfte. Es haben ja in Zeiten höchster Belastung alle irgendwie ausgeholfen, entlastet, angepackt", sagt der DIVI-Präsident Professor Gernot Marx.

DIVI-Präsident Gernot Marx auf einer Intensivstation
"Noch mehr Pflegekräfte zu verlieren würde uns dauerhaft in einen Notfallmodus steuern" - Professor Gernot MarxBild: DIVI

Er fordert konkret: "Das nächste halbe Jahr ist das Bruttogehalt gleich dem Nettogehalt. Oder zumindest: die Nachtarbeit wird steuerfrei. Ein Zeichen, das wirklich zeigt: Da haben die politischen Verantwortlichen endlich mal etwas im Sinne der Intensivpflege entschieden."

Politik weiß oft immer noch nicht, wie Intensivstationen funktionieren

Derzeit fallen Politiker eher mit dem kompletten Gegenteil auf, mit Äußerungen, die zeigen, dass sie die Situation auf den Intensivstationen bis heute nicht verstanden haben. So wie Wolfgang Kubicki von der FDP mit dem Vorschlag, einfach die Notfallreserve der 10.000 Intensivbetten zu aktivieren.

Deutschland I Bundesparteitag FDP I Wolfgang Kubicki
Brachte die Intensivpflegekräfte gegen sich auf - Wolfgang KubickiBild: Stefan Zeitz/imago images

"Herr Kubicki, ein Bett pflegt keinen Menschen, ich brauche hochqualifiziertes Personal dafür, das lernt man nicht in einem 24-Stunden-Crashkurs", sagt Kathrin Hüster, "das ist einfach populistisch rausgehauen, ohne Fachwissen und ohne sich überhaupt mit der Thematik auseinandergesetzt haben."

Ärzte und Pflegende am Limit

Bei Politiker-Aussagen wie diesen kann sich Hüster immer noch in Rage reden, obwohl sie gar nicht mehr als Intensivpflegerin tätig ist. Vor einem Jahr zog sie, am Ende ihrer Kräfte, ihren ganz persönlichen "Pflexit" durch, nach 20 Jahren als Pflegefachkraft und den letzten acht Jahren davon auf verschiedenen Intensivstationen in Nordrhein-Westfalen. Wer jemanden sucht, der ungeschönt über die Situation in der Pflege erzählen kann und will, der ist bei ihr an der richtigen Adresse.

Olympisches Motto in der Pflege sorgt für Überlastung

"Das Motto in der Pflege lautet: Höher schneller, weiter, das höre ich auch immer wieder von Kolleginnen und Kollegen. Wir sind Verfügungsmasse für medizinische Leistungen. Da geht jeder noch so psychisch gesunde Mensch irgendwann zugrunde. Und wenn man jetzt den Mangel mit Tausenden Medizinstudenten beheben will, finde ich das sehr fragwürdig."

Kathrin Hüster, ehemalige Intensivpflegekraft
"Obwohl ich nicht mehr am Intensivbett arbeite, ist die Pflege nach wie vor meine Heimat" - Kathrin HüsterBild: Privat

Kathrin Hüster sagt, sie könne jetzt endlich wieder durchschlafen, träume aber immer noch drei bis vier Mal die Woche von ihrer Arbeit auf der Intensivstation. Im Sommer war sie im Urlaub auf einem Campingplatz, als sie den Alarmton eines Beatmungsgerätes hörte, den sich jemand als Klingelton auf sein Handy gespielt hatte. "Ich habe sofort gedacht, ich muss aufstehen, ich muss rennen, da ist jemand in Not. Ich war sofort wieder in Alarmbereitschaft."

Pflege braucht stärkere Lobby

1,7 Millionen Menschen arbeiten in Deutschland in der Alten- und Krankenpflege, so viele Menschen also wie in Hamburg leben, aber trotzdem fehlt der Branche die Lobby. Im vergangenen Jahr wurden sie beklatscht, erhielten ein paar anerkennende Worte und einen finanziellen Corona-Bonus, der bei vielen allerdings nicht ankam.

Hüster fordert schon lange einen politischen Pflegerat, der sich wöchentlich mit dem Gesundheitsministerium austauscht. "Ein Beratergremium, in dem auch Pfleger von der Basis sitzen, die jeden Morgen Patienten waschen, pflegen und versorgen."

In der Pflege muss etwas geschehen, so viel steht fest, einen weiteren Aderlass nach der vierten Corona-Welle kann sich Deutschland nicht mehr leisten. Vielleicht muss aber auch, so Kathrin Hüster, erst der Worst Case passieren, damit die Politik endlich aufwacht: "Wenn also ganz viele Pflegekräfte kündigen und den Job verlassen, sonst wird sich nie etwas ändern. Die Pflege wird ein Luxusgut werden."

Porträt eines blonden Manns im schwarzen Hemd
Oliver Pieper DW-Reporter und Redakteur