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Politik

Trügerische Entwarnung in der Türkei?

Daniel Derya Bellut
2. Juli 2021

Kaum sinkt die Zahl der Corona-Neuinfektionen, will die türkische Regierung wieder zurück zum Alltag. Der Schritt erfolge zu früh, warnen türkische Ärzte, weil die Delta-Mutation sich auch in der Türkei ausbreitet.

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Türkei Ankara | Coronavirus | Impfung Recep Tayyip Erdogan; Präsident
Alles unter Kontrolle? Diesen Eindruck will zumindest der türkische Präsident Erdogan - hier bei seiner Corona-Impfung in Ankara - vermittelnBild: Murat Cetinmuhurdar/Presidential Press Office/REUTERS

In keinem europäischen Land schossen Mitte April die Corona-Infektionszahlen so stark in die Höhe wie in der Türkei - täglich infizierten sich bis zu 63.000 Menschen. Allein die größte türkische Stadt Istanbul erreichte eine 7-Tage-Inzidenz von rund 850. Die türkische Regierung reagierte zwar spät, dann aber konsequent, um die dritte Welle zu brechen. Wochenlang mussten alle Betriebe schließen, darunter auch Restaurants und Cafés. Bürger durften ihre Wohnungen nur noch aus triftigen Gründen verlassen.

Die strengen Maßnahmen sollten sich auszahlen - heute ist das Infektionsgeschehen weitestgehend eingedämmt: Die Infektionszahlen in der Türkei sind in den letzten Wochen stetig gesunken, zurzeit liegt die 7-Tage-Inzidenz knapp unter 46. Deshalb ist mittlerweile auch das Auswärtige Amt dazu übergegangen, die Türkei nicht mehr als "Hochinzidenzgebiet", sondern nur noch als "Risikogebiet" einzustufen.

Weltspiegel 26.02.2021 | Türkei | Covid-19: Überlebenskampf der Restaurants und Straßenverkäufer
Türkische Straßen waren während des Lockdowns wie leergefegt.Bild: Getty Images

Erst strenge Maßnahmen, dann großzügige Lockerungen

Die türkische Regierung nimmt die positive Entwicklung zum Anlass, nun eine "Normalisierung" einzuleiten. Der Alltag, den die türkische Bevölkerung vor der Corona-Pandemie gewohnt war, soll nun allmählich zurückkehren. Seit Donnerstag sind die Ausgangssperren aufgehoben, der öffentliche Verkehr soll wieder ohne Beschränkungen möglich sein. Zudem dürfen Unternehmen wieder zum normalen Arbeitsbetrieb übergehen. 

Ärzte und Krankenhausangestellte kritisieren, dass Ankara diese Lockerungen viel zu früh eingeleitet habe. "Das Einzige, was an Maßnahmen bestehen bleibt, ist die Maskenpflicht und diverse Abstandsregeln - mehr nicht. Während der Rest der Welt bald wieder auf einen Lockdown zusteuert, machen wir in der Türkei genau das Gegenteil", urteilt Bülent Ertuğrul, der Vorstandschef der Türkischen Gesellschaft für klinische Mikrobiologie und Infektionskrankheiten (KLİMİK).

Stockende Impfkampagne

Türkischer Gesundheitsminister Fahrettin Koca
Präsident Erdogan hat es vorgemacht - Der Gesundheitsminister ermutigt die Bevölkerung, sich dreimal impfen zu lassenBild: DHA

Viele Ärzte kritisieren, dass die türkische Impfkampagne noch nicht weit genug vorangeschritten sei, um an eine Rückkehr zum Alltag zu denken - nicht einmal 18 Prozent der Bevölkerung sind offiziellen Zahlen zufolge vollständig geimpft. Gleichzetig verkündete Gesundheitsminister Fahrettin Koca am Mittwochabend in einer YouTube-Ansprache, dass sich Türken, die bereits zweimal gegen das Coronavirus geimpft wurden, nun für eine dritte Impfung registrieren können.

"Alles hängt davon ab, wie schnell wir genug Impfstoffe bereitstellen. Wenn wir alle ersten Impfungen im Juli abschließen könnten und dann auch schnellstmöglich die zweite Dosis verabreichen, reduzieren wir vielleicht das Risiko. Sollten wir das nicht tun, werden wirklich schwierige Zeiten kommen", so Ertuğrul. Ähnlich bewertete İhsan Ökten, der stellvertretende Vorsitzende des Türkischen Ärztebunds (TTB), die Entscheidung der Regierung: "Wir können mit der Delta-Variante nur umgehen, wenn wir die Vorsichtsmaßnahmen erhöhen. Wir können die Situation nur bewältigen, wenn wir die Impfgeschwindigkeit erhöhen. Sonst wird im Herbst eine Zunahme der Infektionen unvermeidlich sein".

Sorge vor der Delta-Variante

Besorgniserregend ist für viele Ärzte und Bürger vor allem, dass sich die hochansteckende Delta-Variante ausbreitet. Am Dienstag gab der türkische Gesundheitsminister Koca bekannt, dass die Mutation nun auch in der Türkei auf dem Vormarsch sei: In 26 türkischen Provinzen sei sie bereits aufgetreten - mehr als die Hälfte der Infektionen mit der Delta-Variante seien in Istanbul entdeckt worden. Manche Gesundheitsexperten sind zudem der Auffassung, dass das in der Türkei häufig verabreichte chinesische Vakzin SinoVac gegen die Mutation nicht wirksam genug sei. 

Türkei Debatte um Corona-Impfstoff  | Dr. Ali İhsan Ökten
Die Vorsichtsmaßnahmen müssen erhöht werden, meint TBB-Vorstand ÖktenBild: Privat

Der türkischen Regierung geht es bei den Lockerungen seit dem 1. Juli vor allem darum, die kriselnde Wirtschaft wieder zu beleben. Besonders der Tourismus, einer der wichtigsten Wirtschaftszweige des Landes, erlebte 2020 aufgrund der Pandemie eine tiefe Krise: Nach Angaben des Türkischen Statistikamts (TÜİK) kamen nur 15,8 Millionen Touristen, das ist ein Rückgang von fast 70 Prozent gegenüber dem Vorjahr.

Auch diesen Sommer wird erwartet, dass der Tourismus nur wenig Geld in die Kassen der Reiseanbieter spült. Die Urlaubssaison begann aufgrund der Corona-Pandemie verspätet. Sollten die Corona-Infektionen, wie viele Experten prognostizieren, tatsächlich durch die von der Regierung angestrebte "Normalisierung" in die Höhe schnellen, könnte sie womöglich schon im Frühherbst wieder enden.