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Corona: Warten will gelernt sein

30. Mai 2020

Das dauert! Ob Klopapier, der ersehnte Corona-Impfstoff oder die Rückkehr zur Normalität - nichts davon kommt über Nacht. Das nervt gewaltig. Haben wir die Kulturtechnik des Wartens verlernt?

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Nepal: Touristen warten auf Rückflug
Flugpassagiere warten in Nepal auf den Abflug: Viele Touristen mussten sich in der Corona-Krise bei der Ausreise gedulden Bild: Imago-Images/ZUMA Wire/P. Ranabhat

Warten auf den Besuch bei den Großeltern, warten auf den Urlaub, warten auf die Zeit nach Corona: Das Warten hat Konjunktur. Aber warten wir nicht ohnehin immer und irgendwo auf irgendwas? Nicht auszuhalten! Aber warum eigentlich? "Warten ist verlorene Zeit", sagt der Münchener Zeitforscher Karlheinz Geißler, "weil wir die Zeit in Geld verrechnen". Zeit ist Geld, "Time is money" formulierte einst Benjamin Franklin, einer der Gründerväter der USA, in seinem Werk "Ratschläge für junge Kaufleute" das Credo des Industriezeitalters.

Kein Wunder, dass das Warten so ein mieses Image hat. Geißler, von Haus aus Ökonom, hat viel über die Phänomene der Zeit nachgedacht und publiziert: über die Pausen, die Eile, die Gleichzeitigkeit - und eben das Warten. Für die Weltausstellung Expo 2000 in Hannover, erzählt er, hatte ihn der künstlerische Leiter Martin Roth engagiert, um ein Raumkonzept für die Wartebereiche im Themenpark zu entwerfen. Doch bis zur Präsentation konnte das Management nicht warten: Sämtliche Wartezonen wurden an Coca Cola "verkauft" - meistbietend, versteht sich.

Warten, so die kollektive Erfahrung im westlichen Kulturkreis, gilt als Zumutung. Wer auf den verspäteten Zug warten muss, auf die säumige Verabredung oder den freien Tisch im Restaurant, "der wird ungeduldig, nicht selten ungehalten und aggressiv", schreibt derKölner Autor André Bosse in einer Betrachtung zum Thema Warten. "Anscheinend funktioniert es nicht, das Warten als geschenkte Zeit zu begreifen", analysiert Bosse. "Statt sie zu genießen, wird sie zur Qual." Das könnte an den "Warteräumen" liegen, vermutet Claudia Peppel. Die Kulturwissenschaftlerin kuratierte 2016 am ICI Kulturlabor Berlin die Themenausstellung "The Waiting Room" ("Der Warteraum").

Die Unlust der Wartenden

Claudia Peppel, Mitherausgeberin des Buches "Die Kunst des Wartens"
Kunstwissenschaftlerin PeppelBild: Privat

Gemeinsam mit der Kultur- und Museumswissenschaftlerin Brigitte Kölle hat Peppel 2019 beim Berliner Wagenbach-Verlag "Die Kunst des Wartens" herausgebracht. Das Buch verknüpft Arbeiten zeitgenössischer Foto-und Filmkünstler mit literarischen Texten, Essays und Interviews - eine facettenreiche Annäherung an das Phänomen des Wartens. "Viele Warteräume", sagt Peppel - und möchte dabei den Begriff im Sinne des französischen Philosophen Roland Barthes als ein "zeitliches Gehäuse" verstanden wissen - "sind unwirtlich gestaltet." Auch das ein Grund für die Unlust der Wartenden.

In einem Essay über das Warten schreibt der Bonner Autor und JournalistRodion Ebbighausen: "Die Bahnhofsuhr wird dem Wartenden schließlich zum Taktgeber. Jede verstrichene Minute wird zur Erlösung. Aber die Uhr ist dem, der ausharrt, zugleich Menetekel, denn obwohl während des Wartens die Zeit niemals schnell genug verrinnen kann, sind die leeren Minuten gewarteter Zeit eine bedrohlich anwachsende Last verlorener Augenblicke." Ebbighausens Fazit: "Es kommt nicht darauf an, worauf wir warten, sondern darauf, wie wir warten."

Ob im Wartezimmer beim Arzt, auf dem hässlichen Bahnsteig oder im Vorzimmer beim Amt - wer hier warten muss, fühlt sich zumeist fremdbestimmt. "Wer andere warten lässt", schreibt der Berliner Kunsthistoriker Johannes Vincent Knecht in seinem Beitrag für Peppels Buch, "hat Macht über sie". Das "Warten-Lassen", sagt auch Zeitforscher Geißler, "wird zum Machtinstrument."

Warten im Konsumtempel

Warten ist ein Zustand des unmittelbaren Erlebens von Zeit, sagt Claudia Peppel. "Einerseits beklagen wir, keine Zeit zu haben und wünschen uns immer diesen Müßiggang, diese Pausen", sagt die Autorin. "In dem Moment, wo es verordnet ist oder von jemand anderem bestimmt wird, dass wir warten, erleben wir das als sehr, sehr unangenehm."

Buchcover Die Kunst des Wartens
Buchcover: Die Kunst des Wartens

Findige Leute haben Warteräume zu Konsumzonen umfunktioniert. Bahnhöfe oder Flughäfen bieten heute jede Menge Kaufanreize. "Wir versuchen ständig, Geld zu verdienen oder Geld auszugeben", führt Geißler zur Begründung an, "deshalb wird das Warten vollgestopft mit Aktivitäten." Warten im schillernden Konsumtempel, da rückt das Ziel des Wartens schon mal in den Hintergrund. Und auch das Smartphone verspricht keinen Ausweg - ganz im Gegenteil: Es verwandelt die Wartenden in Konsumenten und macht sie kontrollierbar.

In der DDR, erinnert sich mancher Deutsche, war das Warten allgegenwärtig, "fast schon ein Lebensprinzip", sagt die Berlinerin Peppel. Bis zur Lieferung des bestellten Autos konnten Jahre vergehen. Auch die ersehnte Wohnung erhielt man nicht über Nacht. Baumaterialien fehlten, wie viele Dinge des täglichen Bedarfs. Die sozialistische Mangelwirtschaft produzierte Menschenschlangen vor leeren Läden. Was das mit den Betroffenen anstellte, lässt sich bei dem russischen Schriftsteller Vladimir Sorokin nachlesen.

Wenn Warten Spaß macht

In seinem Roman "Die Schlange", erschienen 1985 im Pariser Exil, beschreibt er eine Warteszene im sowjetischen Alltag. Es beginnt mit der Frage "Genosse, wer ist der letzte?" Wer einen ganzen Tag lang dicht gedrängt miteinander ansteht, erfährt viel aus dem Leben der anderen. Man zankt sich, klatscht und tratscht, flirtet. Oder lässt sich den Platz freihalten, um Zigaretten zu holen, etwas essen zu gehen oder einen zu heben. Zwischendurch gilt es zu klären, ob die Ware, für die man ansteht, wohl für alle reichen wird, welche Farbe sie hat, ob alle Größen vorhanden sind, woher sie kommt. Aus Bulgarien? Aus der Türkei? Aus Amerika? Warten, so Sorokins ironische Botschaft - die bei den Sowjet-Oberen freilich nicht gut ankam - kann sehr kurzweilig und subversiv sein.

Schlange stehen vor dem Intershop in der DDR
Schlange stehen vor dem Intershop in der DDRBild: picture-alliance/dpa

Zwar ist Warten eine alltägliche Erfahrung. Aber Warten ist nicht gleich Warten: Da ist der Musiker, der vor der Partitur auf seinen Einsatz wartet. Seine Wahrnehmung ist so geschärft wie die des Jägers auf der Pirsch oder die des Scharfschützen, der seinen Feind ins Visier nimmt. Gläubige warten auf den Erlöser, Flüchtige auf den günstigen Moment. Wir warten auf bessere Zeiten oder den Weltuntergang, auf einen Geburtstermin oder den Tod. Kinder warten auf ihren Geburtstag oder auf Weihnachten. Für manchen ist das Warten geschenkte Zeit und die Vorfreude ein Glück. Denn soviel steht fest: Ist das Warten ein Versprechen, an dessen Ende Erfüllung steht, dann fühlt es sich gleich besser an.

"Unsere Gesellschaft kennt relativ wenige Lebensbereiche, die nicht infiziert sind vom Zeit-ist-Geld-Muster", sagt Zeitforscher Geißler, "in anderen Kulturen ist das Zeit-Erleben völlig anders." In Peppels und Kölles Buch "Die Kunst des Wartens" berichtet etwa Pater Frido Pflüger, Leiter des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes in Berlin, wie er in Afrika ein ganz anderes Zeitverständnis kennen lernte: "Das fragt danach: Wann ist die Zeit reif? Und wenn die Zeit reif ist, dann geschieht etwas. Aber solange die Zeit noch nicht reif ist, so lange geschieht nichts". Ein afrikanisches Sprichwort lautet: "Ihr habt die Uhren, wir haben die Zeit."

Fähigkeit zum Warten erlernt

"Wie ich die Zeit erlebe, hängt davon ab, was ich mit dem Warten verbinde", sagt Geißler. "Wir gehen davon aus, dass wir die Zeit selbst organisieren, wir gehen also auf die Zeit zu. Dabei ist das Warten eigentlich etwas, wo die Zeit auf einen zukommt und man schaut: Was kommt da auf mich zu - an Erlebnissen, Erfahrungen, Möglichkeiten?" Die Frauen, gestand der deutsche Philosoph Walter Benjamin einmal, schienen ihm umso schöner, "je getroster und länger ich auf sie zu warten hatte." Auch in Corona-Zeiten ist das Warten-Können nützlich - wenn nicht sogar geboten.