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Coronavirus in Frankreich: Arbeitnehmer allein an der Front?

Lisa Louis Paris
24. März 2020

In Frankreich bleiben trotz Ausgangssperre wichtige Unternehmen in Betrieb. Doch manch ein Arbeitnehmer fühlt sich dem Virus ausgeliefert und droht damit, die Arbeit zu verweigern.

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Kassiererin in einem Pariser Supermarkt mit kaputten Schutzhandschuhen
Bild: DR

Seit vergangener Woche hat Henda (richtiger Name ist der Redaktion bekannt) das Gefühl, gegen Windmühlen zu kämpfen. Nicht nur, weil jeden Tag Hunderte Kunden auf der Suche nach Nahrungsmitteln in den Monoprix-Supermarkt südlich von Paris stürmen, in dem sie seit 17 Jahren arbeitet. Sondern auch, weil sie sich in diesem Sturm von ihren Vorgesetzten allein gelassen fühlt. Denn die ergriffen kaum Maßnahmen, um ihre Mitarbeiter vor dem Virus zu schützen, so Henda.

Wie ihr geht es etlichen Arbeitnehmern, die trotz der partiellen Ausgangssperre in Frankreich weiterarbeiten müssen. So manch einer von ihnen droht, die Arbeit zu verweigern. Das könnte Frankreichs sowieso schon durch die Krise schwer angeschlagene Wirtschaft noch weiter verlangsamen - vor allem, wenn es Arbeitnehmer in sogenannten "unentbehrlichen Sektoren" sind.

"Es ist, als wären wir Kanonenfutter. Man schickt uns alleine an die Front, ohne uns die Mittel zu geben, um uns wenigstens ein wenig vor dem Virus schützen," sagt die 57-jährige Kassiererin zur DW. "Unser Chef hat sich die ersten paar Tage gar nicht darum gekümmert, uns Mundschutz und Hand-Desinfektionsgel zu besorgen. Das musste ich selbst machen. Und wir Angestellte mussten selbst ein System entwickeln, um die Kunden an der Tür zu blockieren, so dass nicht zu viele gleichzeitig im Laden sind."

Lange Schlange vor einem Supermarkt - hier in der Stadt Cambrai, 200 Kilometer nordlich von Paris
Lange Schlange vor einem Supermarkt - hier in der Stadt Cambrai, 200 Kilometer nordlich von ParisBild: Reuters/P. Rossignol

Ein Verbot, Mundschutz und Handschuhe zu tragen

In Frankreich sind seit Mitte März sogenannte "entbehrliche" Geschäfte wie Bars und Restaurants sowie Schulen und Unis geschlossen. Seit einer Woche gilt eine partielle Ausgangssperre - bisher für zwei Wochen, sie soll aber möglicherweise verlängert werden. Nur aus bestimmten Gründen und mit einer selbst ausgefüllten eidesstattlichen Erklärung darf man noch raus. Sogenannte "unentbehrliche" Unternehmen - wie eben Supermärkte - bleiben jedoch weiter geöffnet. Und für Jobs, die man nicht aus dem Home Office machen kann, darf man aus dem Haus.

Auch in anderen unentbehrlichen Sektoren beklagen sich die Arbeitnehmer, dass Arbeitgeber nicht die notwendigen Schutzmaßnahmen ergriffen - wie in Banken, bei der Post oder auch der Polizei. Manche Briefträger haben bereits die Arbeit verweigert und einige Polizisten drohen damit, keine Kontrollen der Ausgangssperre mehr durchzuführen. "Die Regierung hat uns verboten, bei diesen Kontrollen Mundschutz und Handschuhe zu tragen - außer wenn jemand Symptome hat oder selbst sagt, dass er den Coronavirus hat", erklärt Thierry Clair von der Polizeigewerkschaft UNSA gegenüber der DW. "Dabei ist das absurd - wir wissen doch, dass viele Leute keine Symptome zeigen, obwohl sie sich angesteckt haben."

Noch absurder findet Laurent Degousée von der Gewerkschaft SUD eine solche Situation in als entbehrlich eingestuften Betrieben. Der 49-Jährige ist unter anderem Vertreter der Arbeitnehmer am Standort Saran des Online-Versandhändlers Amazon in Mittelfrankreich. "Ich verstehe nicht, warum Amazon unbedingt weiter funktionieren muss - der Betrieb ist doch nicht lebenswichtig", sagt er zur DW. "Die Arbeiter stehen dort auf engstem Raum am Fließband. Sie haben keine Masken und kein Desinfektionsgel." Mittlerweile hat Amazon reagiert und will nur noch "unverzichtbare" Waren ausliefern, erklärte der Konzern am Sonntag.  

Selbstgebauter Schutz gegen Ansteckung in einem Pariser Supermarkt
Selbstgebauter Schutz gegen Ansteckung in einem Pariser SupermarktBild: DR

Mehr Unternehmen, als man denkt, sind unentbehrlich

Patrick Martin, Vizepräsident der Arbeitgeberorganisation Medef, hält dagegen: Mundschutz und Hand-Desinfektionsgel seien generell Mangelware in Frankreich und dass diese deshalb zunächst einmal an Bedienstete des Gesundheitswesen gingen. "Viele unserer 100.000 Mitgliedsunternehmen versuchen schon, Sicherheitsmaßnahmen zu ergreifen - daran haben sie ja selbst Interesse", sagt er zur DW. "Aber unsere Wirtschaft kann es sich auch nicht leisten, noch mehr Unternehmen zeitweise zu schließen. Denn mehr als man zunächst denkt, sind unentbehrlich. "

Zum Beispiel brauche man Plastikhersteller, um Nahrungsmittel einzupacken. "Das sollten die Arbeitnehmer bedenken, bevor sie nicht mehr zur Arbeit kommen - auch wenn ich verstehe, dass sie Angst haben. Sonst kommt es noch zum totalen Stillstand unserer Wirtschaft."

Die Regierung hat schon mehrmals öffentlich an die Arbeitnehmer unentbehrlicher Unternehmen appelliert, weiter zur Arbeit zu gehen. Und sie hat eine Regelung fortgeführt, laut der Unternehmen ihren Arbeitnehmern steuerfrei einen Bonus von bis zu 1000 Euro auszahlen können. Die Möglichkeit hatte man vor einem Jahr als Antwort auf die Proteste der Gelbwesten geschaffen.

Aber um einen Stillstand der Wirtschaft zu verhindern, müssten der Staat und die Unternehmen mehr tun, so Christian Gollier, Direktor der Toulouse School of Economics. Er schätzt, dass durch die Coronakrise, sollte die Ausgangssperre zum Beispiel zwei Monate dauern, Frankreichs Bruttoinlandsprodukt um bis zu 15 Prozent sinken wird. "Es ist Aufgabe des Staates sicherzustellen, dass genug Schutzmasken etc. verfügbar sind. Und Unternehmen sollten ihren Angestellten höhere Prämien zahlen, damit die mehr Motivation haben, um eben nicht mit der Arbeit aufzuhören", erklärt er gegenüber der DW.

Für Marc Touati, Ökonom und Chef der Pariser Investmentfirma ACDEFI, ist es aus einem ganz bestimmten Grund wichtig, dass unentbehrliche Betriebe geöffnet bleiben. Der Staat müsse daher zudem Geld in die Wirtschaft pumpen, zum Beispiel durch finanzielle Hilfen für kleine Unternehmen, die die Regierung vor kurzem angekündigt hatte. "Auch wenn wir schon Staatsschulden in Höhe von 100 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und nicht mehr viel Spielraum haben - wir haben keine Wahl und müssen in die Vollen gehen", sagt er gegenüber der DW. "Wenn wir die Wirtschaft nicht irgendwie minimal am Laufen halten, könnte es irgendwann zu Aufständen und Plünderungen kommen."

Füreinander einstehen trotz individualistischer Kultur?

Auch Soziologe Rémy Oudghiri, Generaldirektor der Unternehmensberatung Sociovision, meint, finanzielle Anreize seien nötig. "Die Angestellten an der Front fühlen sich doppelt ungerecht behandelt", sagt er im Gespräch mit DW. "Einerseits, weil sie eben stark einer Ansteckungsgefahr ausgesetzt sind, und andererseits, weil sie oft wenig verdienen und sich von der Gesellschaft sowieso schon ausgeschlossen fühlen."

Sein Kollege Jocelyn Raude, Soziologe an Universität für Gesundheitsstudien EHESP in Rennes, glaubt dabei kaum, dass wirklich viele Arbeitnehmer solcher unentbehrlicher Unternehmen zuhause bleiben werden. "Frankreich hat zwar, genauso wie andere europäische Länder, eine individualistische Kultur und die Leute ziehen sich, von der Angst übermannt, zunächst zurück", sagt er zur DW. "Aber Studien zeigen, dass Menschen sehr widerstandsfähig sind und in Katastrophensituationen, nach einer anfänglichen Panikreaktion, dann doch zusammenhalten und füreinander einstehen."

Zumindest die Kassiererin Henda sollte der lebende Beweis für diese These sein. Sie hat zwar damit gedroht, nicht mehr zur Arbeit zu kommen, aber wahr machen wird sie diese Drohung wohl kaum. "Ich habe jedes Mal Angst, wenn ich arbeiten gehe und bin sehr angespannt", sagt sie. "Aber ich weiß auch, dass das Land uns braucht. Die Supermärkte können ja nicht einfach zumachen - was sollen die Menschen denn dann essen?" Sie hofft nur, dass ihr Arbeitgeber nun wenigstens regelmäßig Schutzmasken und Handschuhe verteilt. Dann würde sich Henda zumindest ein bisschen sicherer fühlen.

Und vielleicht folgt ihr Supermarkt dem Beispiel der Einzelhandelskette Auchan - die kündigte am Sonntagabend an, ihren Mitarbeitern teilweise ein Prämie von jeweils 1000 Euro zu zahlen. Auchan lobte das "unerschütterliche Engagement" seiner Mitarbeiter. Nur dadurch sei es möglich, alle Supermärkte geöffnet zu lassen und Lieferdienste weiter anzubieten.