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Ist unser Immunsystem aus dem Training?

2. August 2021

Die letzte Grippesaison ist in Deutschland ausgefallen. Lockdown, Masken und Co. haben dazu sicherlich beigetragen. Doch ist es gut, unser Immunsystem völlig vor Viren und Bakterien zu schützen - und überhaupt möglich?

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Mann beim Niesen
Gesundheit! Auch für die, die gerade in der Nähe sind ....Bild: picture-alliance/dpa/PA/Jordan

Die letzte Grippesaison 2020/2021 war beachtlich. Beachtlich mau, wenn man die Infektionszahlen der vorherigen Saisons sieht. Verwunderlich ist es nicht - schließlich übertragen sich Influenzaviren auch per Tröpfcheninfektion. Und dieses Risiko haben wir alle in den letzten anderthalb Jahren auf ein Minimum reduziert: Masken tragen, Abstand halten, Hände regelmäßig waschen, desinfizieren - das hilft ebenso gegen COVID-19 wie auch gegen Grippe.

Das Robert Koch-Institut meldet: "In der Saison 2020/21 hat sich weder in Deutschland noch in den anderen europäischen Staaten eine auf Bevölkerungsebene messbare Grippewelle aufgebaut."

Infografik: Die Grippewelle 2020/2021 blieb quasi aus. 564 Fälle wurden gemeldet, um die 180.000 waren es in den zwei Saisons davor.

Den gleichen Trend bestätigt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in ihrem Influenza-Update: Die Influenzaaktivität blieb "weltweit trotz fortgesetzter oder sogar verstärkter Grippetests in einigen Ländern auf einem niedrigeren Niveau als für diese Zeit des Jahres erwartet". 

Andere Infektionskrankheiten seltener (gemeldet)

Auch andere ansteckende Infektionskrankheiten waren seltener. So meldete das RKI einen Rückgang von Infektionskrankheiten von 35 Prozent im Untersuchten Zeitraum von März bis August 2020.

Den stärksten Einbruch gab es bei den Erregern, die sich über Atemwege verbreiten. So lag das Minus bei Masern bei 85,5 Prozent. Bei Keuchhusten waren es 63,7 Prozent. Teilweise ähnlich stark gingen zudem die Meldezahlen zu Erregern zurück, die den Magen-Darm-Trakt befallen: Bei Erkrankungen durch Rotaviren sanken sie um 83,3 Prozent. Das Minus bei den Meldungen über Norovirus-Gastroenteritis lag im Studienzeitraum bei 78,7 Prozent.

Der Grund für die starken Rückgänge sei allerdings komplex und "erregerspezifisch". Kontaktbeschränkungen und Hygieneregeln spielen sicherlich eine Rolle, insbesondere bei der Verbreitung von Magen-Darm-Infektionen, es sei aber auch denkbar, dass in dem Zeitraum insgesamt weniger Arztbesuche stattfanden und weniger Fälle entdeckt wurden.

Rückgänge gab es der Auswertung zufolge unter anderem auch bei den Meldungen zu Infektionen mit sogenannten Krankenhauskeimen. Dabei vermutete das RKI einen Zusammenhang mit den aufgrund der Pandemie insgesamt gesunkenen Patientenzahlen. Medizinisch nicht erforderliche Eingriffe wurden verschoben. Auch könnten stärkere Hygienemaßnahmen während der Krise zum Rückgang beigetragen haben.

Ebenfalls deutlich zurück gingen die Meldungen über Infektionen mit sexuell oder durch Blut übertragbaren Krankheiten. Bei HIV lag das Minus bei 22,1 Prozent. Hier vermutete das RKI aber insbesondere auch einen Zusammenhang mit Einschränkungen bei der Arbeit von Gesundheitsämtern und Beratungsstellen in dem Bereich. Es gibt also möglicherweise eine hohe Dunkelziffer. 

RSV-Fälle unter Kindern häufen sich

Allerdings erkranken in verschiedenen Regionen der Welt immer mehr Kindern an einer Infektion mit dem respiratorischen Synzytial-Virus (RSV). 

Laut RKI  ist RSV ein weltweit verbreiteter Erreger, der einfache Atemwegsinfektionen, aber auch schwere Erkrankungen auslösen kann. Grundsätzlich können Menschen jeden Alters durch das RS-Virus krank werden, besonders häufig trifft es aber Kleinkinder. 

RSV ist hochansteckend und wird verbreitet, wenn eine infizierte Person niest oder hustet - darin ähnelt es COVID-19. 

Bereits im März gab es viele Fälle in Australien.  Auch in Neuseeland steigen die Zahlen seit Ende Mai konstant.

  

In Mitteleuropa treten die meisten Infektionen von November bis April auf (RSV-Saison) - in dieser Zeit war es diesmal allerdings ruhig. Dafür häufen sich jetzt die Fälle. Sowohl Frankreich als auch die Schweiz und Großbritannien melden vermehrt RSV-Infektionen bei Kindern. 

"Die Zahl der Kleinkinder in den Notaufnahmen steigt dramatisch an - aber das liegt nicht an COVID", schreibt das Royal College of Emergency Medicine in einer Mitteilung.

Zu den Symptomen von RSV gehören eine laufende Nase, Husten, verminderte Nahrungs­aufnahme und Fieber bis hin zu einer akuten Bronchitis oder Lungenentzündung. Eine Infektion mit dem RS-Virus ist die häufigste Ursache für die Krankenhaus-Behandlung einer Atemwegserkrankung von Säuglingen und Kleinkindern. 

Wie funktioniert die Grippe-Impfung?

Nach Schätzungen des RKI kommen RSV-Atemwegserkrankungen weltweit mit einer Inzidenz von 48,5 Fällen und 5,6 schweren Fällen pro 1000 Kindern im ersten Lebensjahr vor. Etwa 50 bis 70 Prozent aller Kinder erkranken während ihres ersten Lebensjahres mindestens einmal an einer RS-Virus-Infektion. Nach dem zweiten Lebensjahr haben nahezu alle Kinder bereits eine RS-Virus-Infektion durchgemacht.

"Winter im Juni"

In den Notaufnahmen des Vereinigten Königreichs sei die Zahl der Kleinkinder für diese Jahreszeit sehr hoch, da die Zahl der Infektionen, die normalerweise im Winter auftreten, steigt.

Das Royal College of Paediatrics and Child Health (RCPCH) berichtet, dass die Notaufnahmen besonders unter Druck stehen, weil immer mehr besorgte Eltern ihre Kinder mit leichtem Fieber einliefern. Ein Notfall-Kinderarzt beschreit die Situation als "Winter im Juni". 

Kein Wunder, denn für viele Eltern ist Fieber bei ihren Kindern mittlerweile ungewohnt oder sogar völlig neu, insbesondere, wenn die Kinder im Lockdown geboren wurden und bisher mit keinen Krankheiten konfrontiert waren. 

Daher soll ein Leitfaden nun erste Abhilfe leisten, denn in den meisten Fällen sei ein Besuch in der Notaufnahme nicht nötig, Paracetamol oder Ibuprofen seien bei leichtem Fieber, laufender Nase oder Husten völlig ausreichend. 

Natürliches Gleichgewicht gestört

Im "Coronavirus Update" des NDR sagte Virologin Sandra Ciesek noch im März zu den vermehrt auftretenden RSV-Fällen in Australien, dass das Gleichgewicht, was wir sonst mit Viren um uns herum haben "durch die Pandemie und durch die Maßnahmen gestört" wurde. Kontaktbeschränkungen, Masken, die Schließungen von Schulen und Kitas, all das hat dazu geführt, dass Kinder abgeschottet wurden - auch von Viren und anderen Krankheiten, mit denen sie in der Regel in diesem Alter konfrontiert werden. 

Ein Kind trägt eine Maske und Gesichtsschild
Kinder sind vor Erklältungskrankheiten verschont geblieben. Dafür haben sie jetzt keine Antikörper dagegenBild: Indranil Aditya/picture alliance

"Es zeigt einfach noch mal schön, wie das Zusammenspiel zwischen Viren und Menschen ist. Und [es zeigt,] dass durch diese künstlichen Bedingungen der Kontaktbeschränkungen das auch Einfluss auf andere Viruserkrankungen hat, und [man] die Häufigkeit [der Infektionen] dann künstlich verschiebt", sagt Sandra Ciesek. Die RSV-Saison wird später starten, lautete ihre Prognose.

Immunsystem - aus dem Training?

Aus dem Gleichgewicht bedeutet indes nicht, dass das Immunsystem aus dem Training ist. Kinderärzte in Deutschland registrierten durch das RS-Virus ausgelöste Erkältungen bislang im Sommer "ein bisschen vermehrt", so der Sprecher des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte, Jakob Maske, gegenüber der Deutschen Presse-Agentur (dpa). 

"Wir sehen das aber relativ gelassen", sagt Maske. Kinder holten die Infekte nach, die sie in der Corona-Zeit verpasst hätten. "Das RS-Virus ist ein normaler Erkältungserreger, nach dem man normalerweise nicht suchen würde. Die Gefährdung dadurch ist nicht vergleichbar mit der durch Corona oder Grippe", sagte er. 

Es sei normal und positiv zu sehen, dass Kinder Infekte durchmachen, so der Kinderarzt Maske. "Sicherlich werden wir leichte Formen davon in den nächsten Monaten vermehrt sehen. Die Hauptschwierigkeit wird sein, bei der Schnupfnase zu unterscheiden, ob es Corona oder eine banale Erkältung ist." 

"Immunsystem nicht als Muskel vorstellen"

Drohen Infekte bei Kindern nach der Corona-Zeit nun schwerer auszufallen, weil das Immunsystem weniger trainiert ist? Der Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Immunologie, Carsten Watzl, geht gegenüber dpa von mehr Erkrankungen, aber nicht zwangsläufig von schwereren Verläufen aus: "Das Immunsystem darf man sich nicht als Muskel vorstellen, der sich in der Pandemie zurückgebildet hat." Auch mit den Maßnahmen zum Schutz vor Corona habe es noch genug zu tun gehabt, zum Beispiel weil Keime nicht nur mit der eingeatmeten Luft, sondern etwa auch mit dem Essen aufgenommen würden.

Je nach Erreger gebe es unterschiedliche Ursachen, aus denen man sie sich einfängt, erklärt der Immunologe: "Rhinoviren etwa bekommt man, weil sich das Virus ständig verändert und dem Immunsystem somit neu erscheint. Es liegt nicht an mangelnder Erfahrung." 

Strategie vs. Natur

Bei den normalen Erkältungscoronaviren und dem RS-Virus sei man nach einer gewissen
Zeit einfach wieder fällig. Bei solchen Infektionen "sind jetzt mehr Menschen wieder 'dran', da viele sich ihre Immunität nicht letzte Saison abgeholt haben", erläutert Watzl. "Bei diesen Infektionen kann
man daher eine höhere Zahl als normal erwarten. Bei den Rhinoviren zum Beispiel gehe ich nicht von einer höheren Anzahl aus."

Auch das Robert Koch-Institut (RKI) mahnte kürzlich in seiner Herbst-Winter-Strategie für die stationäre und ambulante Versorgung eine frühzeitige Vorbereitung "auf ein verstärktes Krankheitsgeschehen" an, "auch angesichts der zusätzlich zu erwartenden Belastung durch akute Atemwegsinfektionen", die in der Saison 2020/21 nicht in der Bevölkerung zirkuliert seien. Dazu zähle neben der Grippe auch RSV und SARS-CoV-2 sowieso.

Hannah Fuchs Multimedia-Reporterin und Redakteurin mit Fokus auf Technik, digitalen Themen und Psychologie.