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Raif Badawi und die Macht der Fatwas

17. Juni 2017

Seit fünf Jahren sitzt der saudische Journalist Raif Badawi in Haft. Sein Vergehen: er hat sich kritisch mit Politik und Gesellschaft seines Heimatlandes auseinandergesetzt. Der Kampf um seine Freilassung hält an.

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Raif Badawi Amnesty International Demo
Bild: Getty Images/AFP/T. Schwarz

Irgendwann fehlten im Smartphone die Herzen. Keine Bilder der Verbundenheit, kein zartes Wort, keine Beteuerung der Zuneigung. Das Display war seltsam nackt, ganz ohne die Nachrichten, die ihr der Ehemann sonst ins Beiruter Exil schickte. Auch in den anderen Chat-Diensten, über die sie kommunizierten, fand sich kein Wort.

Zwanzig, dreißig, vielleicht fünfzig Mal wählte sie an jenem Morgen die Nummer ihres Mannes, berichtet Ensaf Haidar Badawi, die Ehefrau des seit dem 17. Juni 2012 verhafteten saudischen Bloggers Raif Badawi. Wieder und wieder versuchte sie es - und irgendwann, ganz unerwartet, meldete sich jemand. Es war, erkannte sie sofort, nicht ihr Ehemann. Wo der sei, fragte sie den Unbekannten. "Im Gefängnis", antwortete der. "Und bevor ich ihm eine weitere Frage stellen konnte, legte der Fremde einfach auf."

Juristische Willkür

In ihrem auch auf Deutsch erschienenen Buch "Freiheit für Raif Badawi" schildert Ensaf Haidar Badawi eindrücklich das Leiden ihres nun seit fünf Jahren in einem saudischen Gefängnis einsitzenden Ehemanns. Und sie beschreibt die Willkür der saudischen Justiz.

Angeklagt war Raif Badawi wegen Apostasie -  Abfall vom Glauben, den die Richter in den Texten des Bloggers zu erkennen glaubten. "Lange Zeit", schreibt seine Ehefrau, "wusste niemand, welche Vorwürfe gegen ihn erhoben würden und für wie lange er ungefähr im Gefängnis bleiben müsste."

EP verleiht den Sacharow-Pres an Raif Badawi Ensaf Haidar
Kampf für die Freiheit: Haidar Badawi mit einem Porträt ihres Mannes im EU-Parlament in StraßburgBild: picture-alliance/dpa/P. Seeger

Im Mai 2014 dann folgte in einem Revisionsprozess das endgültige Urteil: Wegen "Beleidigung des Islam" wurde er zu zehn Jahren Haft und 1000 Peitschenhieben sowie einer Geldstrafe von umgerechnet etwa 194.000 Euro verurteilt. Bisher wurden 50 dieser Peitschenhiebe vollstreckt.

"Kultur des Lebens"

Das drakonische Urteil straft den Autor von Texten, die in der Saudischen Theokratie als verdammenswürdig gelten. Wie jener etwa, in dem sich Badawi im November 2010 für eine "Kultur des Lebens" aussprach. "Was wir hier, in den arabischen beziehungsweise islamischen Gesellschaften am dringendsten brauchen, ist die Würdigung der Individuen, die in diesen Gesellschaften leben", schrieb er in seinem Essay, der in dem auf Deutsch erschienenen Sammelband "1000 Peitschenhiebe" enthalten ist. Die Region brauche noch etwas, schrieb er weiter: "Würdigung ihrer Freiheiten und Respekt vor ihren Gedanken – sprich: die Würdigung all dessen, was ein Gottesstaat als oberste Priorität bekämpft.

In einem anderen Text aus demselben Jahr setzt er sich mit der intellektuellen Freiheit in der arabischen Welt auseinander - einer Freiheit, die so Badawi, auf das Äußerste bedroht sei. Die Folgen dieser Repression, schrieb er, könnten sich auf die Region langfristig verheerend auswirken: "Meine größte Befürchtung ist, dass die klugen Köpfe der arabischen Welt eines Tages alle auswandern werden, auf der Suche nach frischerer Luft, irgendwohin, weitab von den Schwertern des religiösen Autoritarismus."

Im Zauberreich der Fatwas

In Saudi-Arabien ist der Wahabismus, eine besonders strenge Variante des sunnitischen Islam, Staatsreligion. Zu den Aufgaben der wahabitischen Kleriker gehört es, das religiöse Leben bis ins Kleinste zu regeln. Zu diesem Zweck erlassen sie tagtäglich mehrere Fatwas. Allein in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, schätzt Madawi al-Rasheed, Sozialanthropologin an der London School of Economics, haben die Religionsgelehrten es auf rund 30.000 Fatwas gebracht - das sind fast drei Fatwas am Tag.

Buchcover Raif Badawi 1000 Peitschenhiebe
Die Gedanken sind (nicht immer) frei: Badawis Essays in der deutschen AusgabeBild: Ullstein Buchverlage

Als "Verzauberung der Welt" bezeichnet Al-Rasheed diesen nicht versiegenden Fatwa-Quell. Das Ziel, so Al-Rasheed, sei es, die Menschen so sehr mit religiösen oder gar pseudoreligiösen Details zu beschäftigen, dass sie es versäumten, über andere Probleme nachzudenken - etwa die der politischen und sozialen Verhältnisse im Königreich. Die Religion, so kann man Al-Rasheed verstehen, dient ganz wesentlich dem Machterhalt der Königsfamilie Al-Saud.

Kritik als Verbrechen

In einer ideologisch derart strikt kontrollierten Hierarchie gelten dissonante Stimmen  als Gefahr - nicht nur für das angebliche Seelenheil der Bewohner, sondern auch und vielleicht sogar für allem für die traditionelle Ordnung, die Personen an seiner Spitze des Staates aufgrund des Ölreichtums des Landes auch gewaltige private Vermögen beschert. 

Entsprechend riskant ist es, diese Ordnung in Frage zu stellen. "Sie (die saudischen Behörden, Anm. d. Red.) wollen, dass alle einer Meinung sind", erläutert Haidar Badawi im Gespräch mit der DW. "Sie haben Angst vor der Vielfalt der Meinungen."

Sarah Leah Whitson, Leiterin der Abteilung Naher Osten bei Human Rights Watch, bestätigt diese Einschätzung. „Die Golfstaaten greifen systematisch und mit guter finanzieller Ausstattung die Meinungsfreiheit an, um die potenziell transformative Macht der sozialen Medien und des Internets zu unterminieren", schreibt sie auf der Internetseite der Menschenrechtsorganisation.

Hoffnung auf Freiheit

Die weltweite Kampagne für die Freilassung Raif Badawis geht unterdessen weiter. Es ist nicht ausgeschlossen, dass der Staat den Blogger im Zuge seiner vorsichtigen Reformen irgendwann freilässt. Gewiss ist das nicht. Für Raif Badawis Ehefrau und seine drei Kinders heißt das, weiter mit der Ungewissheit leben zu müssen. Solange engagieren sich Haidar Badawi und ihre Unterstützer weltweit für den inhaftierten Journalisten.

"Ich habe die Hoffnung, dass die saudische Regierung eines Tages begreift, dass Meinungsfreiheit ein Recht jedes Menschen ist", so Haidar Badawi gegenüber der DW. "Raif hat sich immer friedlich geäußert und sein Land geliebt. Insofern habe ich die Hoffnung, dass er bald freikommt."

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika