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Kruzifix-Urteil

6. November 2009

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat entschieden: Kruzifixe dürfen nicht mehr in italienischen Schulen hängen. Das könnte zu einer Radikalisierung der italienischen Katholiken führen, meint Klaus Krämer.

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Themenbild Kommentar Grafik Symbolbild (Foto: AP)
Bild: DW

Man stelle sich Folgendes vor: Auf Intervention einer agnostischen Minderheit in Deutschland wird es höchstrichterlich verboten, Straßenkreuzungen genau so zu nennen. Es wird verfügt, sie künftig nur noch als Straßenquerungen zu bezeichnen. Außerdem dürfen sie nicht mehr rechtwinkelig aufeinander treffen, weil sie Andersgläubige in dieser Form zu sehr an das Kreuz Christi erinnern.

Man stelle sich außerdem vor, dass alle Querhölzer an bayerischen Gipfelkreuzen demontiert werden müssen, weil ein atheistischer Bergsteiger sich in seinen religiösen Gefühlen verletzt fühlt. Wenn er nach mühsamem Aufstieg die Spitze des Berges erreicht hat, will er dort bestenfalls einen Gipfelpfahl vorfinden, keinesfalls ein Gipfelkreuz.

Darüber hinaus würden wegen der Verletzung religiöser Gefühle Kreuzspinnen und Kreuzottern ausgerottet, Kreuzschlitzschrauben, Kreuzworträtsel und Kreuzschmerzen abgeschafft. Ganz so weit ist die deutsche und europäische Rechtssprechung gottlob noch nicht, aber viel scheint bis dorthin nicht mehr zu fehlen.

Gut für die Familie, schlecht für Italien

Nicht nur Christen sind kreuzunglücklich wegen der Rechtssprechung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs zum Kruzifix in Italien, sondern auch religiös unverdächtige Menschen, die hier schlicht die christlich, abendländische Kultur und Identität eines Landes und Kontinents in Gefahr sehen. Auch Angehörige anderer Religionen dürften nachdenklich werden, denn schon Morgen kann es Ihren religiösen Symbolen in der Öffentlichkeit ähnlich gehen.

Fakt ist und bleibt allerdings: Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof hat geurteilt. Er gab einer Mutter recht, die gegen die Anbringung des Kreuzes in öffentlichen Schulen geklagt hatte. Das christliche Symbol, so die Straßburger Richter, verletze die Religionsfreiheit der Schüler, die Erziehungsfreiheit der Eltern und die religiöse Neutralitätspflicht des Staates. Der müsse vielmehr den Pluralismus der Werte, Überzeugungen und Religionen fördern.

Keine Frage – und da ist dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zuzustimmen: Der Staat muss religionsneutral sein und darf keinem Bürger eine Religion aufdrängen. Zudem ist die Menschenrechtsgesetzgebung in solchen Fragen immer auf den Einzelnen abgestellt. Das bedeutet: das Gericht hat sich in diesem Fall nur auf das Kind und seine Eltern konzentriert, um zu prüfen, ob deren Rechte verletzt sind. Ihnen nützt dieses Urteil vielleicht, immerhin wurde dem Kind ein sattes Schmerzensgeld zugesprochen, weil es Jahre lang mit dem Kreuz den Klassenraum teilen musste.

Werden die Italiener zu Fundamentalisten?

Im gleichen Zuge ist der Schaden, den das Urteil anrichtet, nicht abzusehen. Damit wird auf einen Schlag die ganze italienische Nation, samt seinem Verfassungsgericht, an den Pranger gestellt. Wenn eine Mehrheitsreligion, wie die katholische Kirche in Italien, in dieser Weise zurechtgewiesen wird, kann das zu ungeahnten Reaktionen der betroffenen Menschen führen - nach dem Motto: Jetzt erst recht! Schon jetzt bringen Menschen im ganzen Land unaufgefordert an vielen gut sichtbaren Stellen Kreuze an. Kommunen ordern größere Kruzifix-Kontingente, um damit öffentliche Gebäude zu bestücken, Leuchttafeln blenden zwischendurch Kreuze ein, vor sein Rathaus stellte ein Bürgermeister ein zwei Meter hohes Kreuz. Der bisher entspannte Umgang mit christlichen Symbolen scheint nicht mehr gegeben zu sein. Und wenn das Urteil dazu führen würde, dass Menschen, die bisher prinzipiell für Religionsfreiheit waren, nun intoleranter werden, um ihre Religion zu schützen, hätte der Straßburger Gerichtshof den Menschenrechten in Europa einen Bärendienst erwiesen.

Ein pragmatisches Urteil wäre viel besser gewesen. Man kann, wie es in Bayern Praxis ist, ein Kruzifix auch zeitweise abnehmen – oder besser noch, den entsprechenden Schüler so im Klassenraum platzieren, dass er das Kreuz im Rücken hat. Aber wetten – das würde sofort als Metapher gewertet und hätte dann wieder eine Klage zur Folge.

Autor: Klaus Krämer
Redaktion: Rebekka Drobbe