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"Das Land, das sein Lächeln verloren hat"

13. April 2011

Gut einen Monat nach Beginn der Katastrophe steht das Reaktorunglück von Fukushima jetzt auf einer Stufe mit Tschernobyl. Diese Entscheidung der japanischen Atomaufsichtsbehörde beschäftigt auch die deutsche Presse.

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Titelseiten diverser Tageszeitungen (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung meint:

Die japanische Regierung und ihre Behörden haben in den vergangenen Tagen ein merkwürdiges Verständnis von Aufklärung und Transparenz an den Tag gelegt. Gerade noch hatte Regierungschef Naoto Kan in einer Fernsehansprache erklärt, die austretende Radioaktivität aus den havarierten Fukushima-Reaktoren gehe zurück und die Situation in den Reaktoren stabilisiere sich Schritt für Schritt, da lassen die Offiziellen nur Stunden später mit der Hochstufung des Unfalls auf den höchsten Gefährdungslevel buchstäblich eine Bombe platzen. Denn nun steht die japanische Atomkatastrophe auf einer Stufe mit dem Reaktorunfall von Tschernobyl – dem bis dato einzigen GAU in der Atomenergiegeschichte. Was also war geschehen in den Stunden dazwischen? Ein neues Leck in einem der sechs mit Brennstoff gefüllten Behälter? Eine eskalierende Kernschmelze? Nichts dergleichen, heißt es. Man habe einfach nur neu nachgerechnet – durchkalkuliert, wie viel Spaltmaterial bisher ausgetreten und in der Umgebung des Kraftwerks niedergegangen war. (...) Was allerdings den politischen Schaden angeht, stehen beide Katastrophen jetzt endgültig auf einer Stufe. Das gilt insbesondere für die Informationspolitik. (...) Mit ihrer anrüchigen Alarmierungspolitik steht die Regierung nun aber endgültig auf einer Stufe mit der Kraftwerksfirma, die seit Jahren durch Desinformation auffällt. Kann die Regierung da erwarten, dass man es ihr abnimmt, wenn sie demnächst wieder Entwarnung gibt? Wohl kaum.

Die Neue Osnabrücker Zeitung kommentiert:

"Auch wenn Japan das Ausmaß der radioaktiven Verseuchung nun auf die gleiche Stufe stellt wie den Super-GAU in Tschernobyl vor 25 Jahren: Die Katastrophen sind nicht miteinander vergleichbar. Durch das Tschernobyl-Desaster wurden Flächen in einem 500-Kilometer-Radius verstrahlt. Noch heute existiert eine Sperrzone von 30 Kilometern um das AKW. So gravierend sind die Folgen in Fukushima nicht. Wenigstens diese Erkenntnis bleibt angesichts der asiatischen Apokalypse als Hoffnung. Gleichwohl birgt die mediale Dosis an Schreckensmeldungen aus dem Land, das sein Lächeln verloren hat, eine Gefahr. Die Nachrichten im Minutentakt beschleunigen einen Abstumpfungsprozess, der beispielhaft an der Börse zu beobachten ist. Wenn Händler berichten, dass die höhere Risikoeinstufung deutschen Anlegern die Stimmung verhagelt habe, ist das mehr als eine Petitesse. Krasser könnte der Gegensatz nicht sein. In Japan liegt für viele Menschen die Zukunft in Trümmern, und anderswo ärgern sich Aktionäre über entgangenen Profit."

In der in Berlin erscheinenden tageszeitung heißt es:

"Der Reaktorunfall von Fukushima ist nun offiziell auf der obersten Stufe der amtlichen Skala angelangt. Nicht dass das irgendetwas für die Menschen vor Ort wie auch an der Verseuchung des Pazifiks ändern würde, aber es ist von hoher Symbolkraft. Immerhin wurde die Einteilung von Stör- und Unfällen nach der Katastrophe von Tschernobyl eigens geschaffen, um die Einzigartigkeit der Explosion von Tschernobyl herauszustellen. Nun ist Fukushima also offiziell der zweite "katastrophale Unfall" in der Geschichte der Atomenergie - kein Ereignis, Störfall oder schwerer Unfall, wie andere Stufen der sogenannten Ines-Skala heißen. Von Stufe zu Stufe vergrößert sich der potenzielle Schaden durch einen Reaktorunfall um das Zehnfache. Das ist nicht nur bürokratisches Schubladendenken, dahinter stecken Schicksale, Milliardensummen und geschädigte Ökosysteme."

Der Kommentator der Frankfurter Rundschau schreibt:

"Es ist ein Schock in Zeitlupe. Seit über einem Monat verfolgt die Welt gebannt und zunehmend fassungslos den Super-GAU von Fukushima, der sich nach und nach vom unklaren Störfall zum „katastrophalen Unfall“ der Tschernobyl-Kategorie entwickelt hat. Nun hat Japans Atombehörde mit ihrer Hochstufung der „Havarie“ in die oberste Kategorie der internationalen Atomstörfall-Skala endlich offiziell eingeräumt, dass das Geschehen im und rund um das zerstörte Atomkraftwerk alle erträglichen Dimensionen übersteigt. Fukushima potenziert das unermessliche Leid, das über Japan schon durch Erdbeben und Tsunami gekommen ist.

Bei allem Atom-Horror darf nicht vergessen werden, dass durch die „Natur“-Katastrophe vom 11. März 25000 Menschen oder mehr umgekommen sind. Auch einen reichen Staat wie Japan bringt das an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit. Überheblichkeit ist also fehl am Platze. In den USA oder Deutschland wäre es nicht anders. Unbegreiflich trotzdem, wie dilettantisch der AKW-Betreiber Tepco und die Regierung in Tokio einen Monat lang mit dem sich geradezu lehrbuchartig entwickelnden Atomdesaster umgegangen sind. Alles im Griff, ausgetretene Strahlung ungefährlich, Evakuierung unnötig, brauchen keine Hilfe aus dem Ausland – so begann es. Inzwischen räumt Tokio ein, möglicherweise sei bereits jetzt mehr Radioaktivität ausgetreten als 1986 in Tschernobyl."

In der Stuttgarter Zeitung schließlich heißt es:

"Die Betreiberfirma Tepco ist ganz offensichtlich von den Ereignissen überrollt worden und nun mit dem Krisenmanagement massiv überfordert. Angesichts der Schäden, die durch das gewaltige Erdbeben und den nachfolgenden Tsunami verursacht wurden, ist dies verständlich. Aber die Frage ist berechtigt, warum die Japaner vor allem am Anfang der Katastrophe internationale Hilfe abgelehnt haben. Der Versuch, die Krise aus eigener Kraft zu meistern, hat sich inzwischen als katastrophaler Fehler erwiesen. Ein besser durchdachtes und vor allem schneller einsetzendes Krisenmanagement hätte vielleicht verhindert, dass so viel Radioaktivität freigesetzt wurde, dass nun die Gefahrenstufe 7 ausgerufen werden musste."

Redaktion: Esther Felden