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Politik

Das Land der scharfen Gegensätze

Juri Rescheto
16. März 2018

Russland vor der Wahl: Ein Sieg von Wladimir Putin scheint sicher. Dabei sind die Menschen nicht überall im Land mit dem Präsidenten zufrieden. Von Juri Rescheto, Moskau.

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Fußgänger auf dem Roten Platz in Moskau
Bild: Reuters/G. Garanich

 "Auf dem Sofa sitzen und warten, was kommt, ist das Schicksal der Insekten", sagt Julia Fedotowa. "Ich dagegen bin ein Mensch und gehe auf die Barrikaden wenn, wenn es sein muss". Und sie ruft in die Menge: "Na-wal-ny!" Die Juristin mit dem knallroten Lippenstift ist mit ein paar tausend anderen jungen Aktivisten bei minus achtzehn Grad in Jekaterinenburg auf die Straße gegangen, um ihrem Protest Luft zu machen.

Der aber, um den es hier geht, ist gar nicht da. Weder bei der Demonstration seiner Anhänger an diesem eiskalten Wochenende in Jekaterinburg noch bei der kommenden Präsidentenwahl am Sonntag. Der größte Kreml-Kritiker, Alexey Nawalny, darf nicht kandidieren, weil er vorbestraft ist. Die Opposition sieht darin einen vorgeschobenen Grund. Seine Anhänger rufen zum Wahlboykott auf.

Putin und die sieben Gegenkandidaten

"Rein juristisch ist das natürlich richtig, dass er nicht teilnimmt. Politisch gesehen aber ist diese Wahl ohne ihn irgendwie unvollständig", resümiert der Unternehmer Boris Titow, der im Gegensatz zu Nawalny kandidieren darf. Titow ist einer der sieben Kandidaten neben Wladimir Putin. "Jedem ist doch klar: Die besten Chancen hat der amtierende Präsident. Ich kandidiere, um zu zeigen, dass es Menschen gibt, die Putins Politik nicht teilen", sagt er diplomatisch im DW-Interview.

Präsidentschaftskandidat Jawlinksi

Diesen Satz wiederholen - so oder so ähnlich - auch seine beiden Konkurrenten: der liberale Politiker Grigorij Jawlinskij und der Rechtspupulist Wladimir Schirinowskij. Beide sind in Russland seit den 1990er Jahren bekannt. Beide werden von ihren Kritikern eine "zahnlose Systemopposition" genannt, die keine Gefahr für den Kremlchef darstellen, trotz ihren markanten Worten gerade jetzt kurz vor der Wahl.

Jawlinskij zum Beispiel warnt: "Russland betreibt eine sehr gefährliche Politik, die innenpolitisch zur Armut und außenpolitisch zu einem Militärkonflikt führen kann."

Schirinowskij droht dem Westen selbst mit einem Krieg: "Wenn ich gewinne, werden 150 Millionen Russen mit einem Lächeln im Gesicht erwachen. Der Westen wird aber zittern müssen, wenn er nicht aufhört, uns Russen zu belehren, wie man lebt."

Leben in der Glitzermetropole und in Häusern ohne Heizung

Und wie leben die Russen? Vielen, die Putin unterstützen, geht es gut. Sehr gut sogar. Sie leben zum Beispiel in der Glitzermetropole Moskau und haben einen gut bezahlten Job - wie Maria Katasonowa, eine Mitarbeiterin der Duma und leidenschaftliche Anhängerin des amtierenden Staatschefs: "Putin ist ein Symbol für Stabilität. Ich habe ihm alles zu verdanken: meinen Job, meine Ausbildung, einfach alles."

Daria Daar
Mieterin Daar: "Welche Wahl?"Bild: DW-TV

Die anderen müssen fürchten, vom eigenen Dach erschlagen zu werden - wie Daria Daar aus einem Vorort der Ural-Metropole Jekaterinburg. Ihr Haus, einst im Staatsbesitz, muss dringend saniert werden. Aber die Behörden fanden überraschend heraus, dass es vor 25 Jahren illegal gebaut wurde - vom Staat selbst. Seitdem fühlt sich niemand dafür verantwortlich. "Wahl? Welche Wahl?", fragt Daria Daar rhetorisch. "Es wurde doch schon längst bereits für uns entschieden." Darias Wohnung ist kalt, die Heizung funktioniert nicht, im Haus schimmelt es. "So lässt der Staat seine Bürger im Stich", beklagt sie und trinkt Tee. Zum Aufwärmen.

Wiederum andere müssen um ihre Freiheit fürchten, wenn sie es wagen, Putins Außenpolitik zu kritisieren - wie Pawel Nikulin. Der unabhängige Journalist veröffentlichte vor ein paar Wochen ein Interview mit dem ehemaligen IS-Kämpfer aus Russland und bekam prompt Besuch vom Geheimdienst. Jetzt steht Nikulin, der auch über andere sensible Themen berichtet, unter Beobachtung. "Sie kamen eines Morgens bewaffnet und durchsuchten meine Wohnung. Wenn du dich für den Journalistenberuf in Russland entscheidest, musst du damit rechnen, dass du eines Tages ermordet werden kannst."

Repressalien und Einschüchterungen

Es gibt zwar keine Zensur in Russland, offiziell zumindest nicht, aber viele Journaliosten befürchten Repressalien und Einschüchterungen, wenn sie kritisch berichten oder auspacken. Dmitrij Skorobutow hat 15 Jahre als Redakteur beim Staatsfernsehen Rossia-24 gearbeitet. Dann wurde er, wie er sagt, von einem betrunkenen Kollegen an seinem Arbeitsplatz verprügelt. Skorobutow hat gegen den Kollegen geklagt. Der mächtige Sender wollte aber den Konflikt vertuschen, vermutet Skorobutow und setzt seitdem offenbar das Gericht unter Druck. Skorobutow hat einen Job verloren und musste seine Wohnung verkaufen, um sich und seine kranke Mutter am Leben zu halten. Er will bald aus Russland fliehen.

Pawel Nikulin
Journalist Nikulin: Besuch vom GeheimdienstBild: DW-TV

Der gefeuerte Journalist fühlt sich hintergangen und geht in die Offensive: "Es gibt so genannte Stopp-Listen für die Redakteure, auf denen Namen und Themen sind, über die man nicht berichten darf", sagte er der Deutschen Welle. "Als es Proteste gegen Putin gab, hat unser Sender zwei Wochen geschwiegen. Danach mussten wir die Proteste als Kinderquatsch abtun. Den Namen Nawalny, der diese Proteste organisierte, durften wir nicht einmal in den Mund nehmen. Und das obwohl in 102 Städten Russlands protestiert wurde."

Das waren Proteste, wie der auf dem die Jekaterinburgerin Julia Fedotowa immer wieder den Namen ihres großen Vorbilds Nawalny umso lauter rief, je konsequenter er in staatlich kontrollierten Medien totgeschwiegen wurde. Oder aber Proteste gegen den immer größer werdenden Einfluss der russisch-orthodoxen Kirche auf die russische Gesellschaft und Politik. Sie finden seit mehr als einem Jahr in Sankt Petersburg statt. Gegen die Übergabe einer der wichtigsten Attraktionen der Stadt, der Isaak-Kathedrale an die Kirche.

Dieser Einfluss ändert die Gesellschaft, kritisieren die Gegner der Kirche. Einer Gesellschaft, die dadurch immer konservativer werden soll. Die aber auch sich wehrt, solange sie kann.

Russland sthet vor einer Präsidentenwahl, die viele als undemokratisch empfinden und die Ksenia Sobtschak, die einzige Frau im Rennen für das höchste Amt im Staat selbst als Fake-Wahl bezeichnet.

Rescheto Juri Kommentarbild App
Juri Rescheto Chef des DW-Büros Riga