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Das Loch in der Biografie

Esther Felden14. Juli 2013

Bin ich Deutscher oder Koreaner? Darauf hat Kim Sperling keine eindeutige Antwort. Als Baby wird er in Südkorea zur Adoption freigegeben. Fast drei Jahrzehnte später beginnt er, nach seinen Wurzeln zu suchen.

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Ein kleiner koreanischer Junge blickt aus dem Fenster eines Busses (Foto: Chung Sung-Jun/Getty Images
Symbolbild Auslandsadoption Südkorea USABild: Getty Images

Er trägt Turnschuhe, Kapuzenshirt, eine modische Brille. Seine langen schwarzen Haare hat er zu einem Pferdeschwanz gebunden. Kim Sperling ist 37 Jahre alt. Fast sein ganzes Leben hat er in Deutschland verbracht, aber seine Gesichtszüge verraten, dass seine Wurzeln eigentlich woanders liegen. Geboren wird Kim Sperling im Dezember 1975 in der südkoreanischen Hauptstadt Seoul, als sechs Monate altes Baby wird er im Sommer darauf von einem deutschen Ehepaar adoptiert.

Exportware Baby

Kim Sperling ist eins von insgesamt 2829 Kindern, die die Kinderhilfsorganisation terre des hommes zwischen 1967 und 1998 an deutsche Paare vermittelt hat - davon allein 1898 aus Südkorea. Die Organisation ist die bundesweit erste, die Adoptionen aus Entwicklungsländern organisiert, erhält für ihre Arbeit auch die staatliche Anerkennung als Adoptionsvermittlungsstelle. Zunächst werden vor allem Kinder aus Vietnam nach Deutschland geholt. Seit Anfang der 70er Jahre steht mehr und mehr Südkorea im Fokus. Schon seit dem Ende des Korea-Krieges 1953 werden zehntausende Waisen oder amerikanisch-koreanische Soldaten-Babys, die während des Krieges gezeugt wurden, ins Ausland abgegeben. Weil sie nicht aus einer legalen Verbindung hervorgegangen sind und "fremdes Blut" in die Familie einbringen, werden sie in der koreanischen Gesellschaft mit ihrem konfuzianischen Familienbild nicht akzeptiert.

Porträtbild des Fotografen Kim Sperling (Copyright: Kim Sperling)
Als er ein halbes Jahr alt war, kam Kim Sperling nach DeutschlandBild: Kim Sperling

Im Zuge der Industrialisierung und des wirtschaftlichen Aufschwungs des Landes in den 60er Jahren zeichnet sich eine weitere Entwicklung ab. "Die Menschen zog es in die Städte. Darunter waren auch viele junge Frauen, die in den Fabriken gearbeitet haben", erklärt Michael Heuer, Pressereferenz bei terre des hommes. "Wenn diese Frauen ungewollt schwanger wurden, haben sie ihre Kinder oft zur Adoption freigegeben oder ausgesetzt."

Für jedes Kind die richtigen Eltern finden

Hier setzt die Arbeit von terre des hommes an. Zuerst gibt es noch kein systematisches Verfahren, nach welchen Kriterien potenzielle Eltern ausgesucht werden. "Auslandsadoptionen waren ja ein ganz neues Phänomen", berichtet Michael Heurer. Anfangs sei man ganz einfach davon ausgegangen, es würde ausreichen, "bereitwillige Eltern für Kinder in Not" zu finden. Doch schnell stellt die Organisation fest, dass es damit nicht getan ist. Terre des homme entwickelt daraufhin ein umfassendes Beratungs- und Auswahlverfahren für mögliche Eltern, das unter anderem Gespräche mit dem Jugendamt und Psychologen beinhaltet. Am Ende entscheidet ein mehrköpfiges Gremium über die Eignung der Bewerber.

Auch auf koreanischer Seite sind bürokratische Hürden zu meistern. So müssen beispielsweise die Kinderheime versuchen, von Gerichten oder Behörden die Geburtsurkunden der ausgesuchten Kinder zu beschaffen. Außerdem muss die Adoption juristisch von Seiten eines südkoreanischen Anwalts abgesichert sein. Erst wenn alle Formalitäten erledigt sind, kann die Adoption erfolgreich durchgeführt werden.

Logo mit dem Schriftzug terre des hommes
1994 verabschiedete sich terre des homes von den Auslandsadoptionen - und konzentrierte sich mehr auf Projektarbeit

Nach der Ankunft der Kinder in Deutschland werden die Familien weiter von terre des hommes auf ihrem Weg begleitet. "Am Anfang haben unsere Mitarbeiter und auch die Adoptiveltern geglaubt: Ein Kind kommt nach Deutschland und ist, wenn es größer wird, voll hier integriert", erläutert Pressereferent Michael Heuer. Spätestens seit den 80er Jahren zeichnet sich aber ab, dass diese Rechnung nicht aufgeht. Mehr und mehr wird die Organisation mit einem ganz neuen Problem konfrontiert. "Spätestens der Pubertät wollen die Adoptivkinder wissen: Wo komme ich eigentlich her? Warum bin ich ausgesetzt worden? Wo sind meine leiblichen Eltern?" Um den Jugendlichen die Möglichkeit zu geben, möglicherweise Antworten auf ihre Fragen zu finden und das Land, in dem sie geboren sind, kennenzulernen, organisiert terre des hommes 1990 erstmals eine Reise nach Südkorea. Weitere folgen.

Suche nach der eigenen Identität

Er sei "sehr deutsch" aufgewachsenund habe sich lange ohne Einschränkungen als Deutscher gefühlt, erinnert sich Kim Sperling. Irgendwann aber stellte sich die Frage nach seiner Herkunft. Da sei ihm klar geworden, dass er nach Korea fahren müsse. "Ich musste mir einfach ein eigenes Bild machen. Das größte Problem für mich war, dass ich eigentlich gar keine richtige Meinung zu Korea und zu meiner Herkunft hatte, weil ich nichts davon kannte." Kim Sperling bewirbt sich für ein Programm, das sich speziell an Auslandsadoptierte wendet: Ein Semester lang können sie an einer südkoreanischen Universität studieren, bekommen eine Einführung in Sprache und Kultur ihres gebürtigen Heimatlandes.

Porträt des Adoptivkindes Robyn Joy Schultz in ihrem Jugendzimmer (Foto: Kim Sperling)
Kim Sperling hat südkoreanischen Adoptivkindern ein Projekt gewidmet und sie in ihrer Wahlheimat Südkorea fotografiertBild: Kim Sperling

Am Rosenmontag 2006 besteigt Kim Sperling in eine Maschine nach Südkorea. "Ich hatte keine Ahnung, was mich erwartet", erinnert er sich. Er beginnt mit der Suche nach seiner leiblichen Mutter, kontaktiert HOLT, die südkoreanische Partneragentur, mit deren Hilfe terre des hommes seine Adoption damals vermittelt hat. Ursprünglich gab die Organisation keine Informationen über die Identität der Mütter heraus - mit der Begründung, die Frauen müssten vor möglichen Diskriminierungen geschützt werden. Mittlerweile aber hat HOLT diese Politik geändert. "HOLT hat nochmal bei den Krankenhäusern nachgefragt. Auf einmal hieß es, man habe den Namen meiner Mutter und ein Geburtsdatum." Mit diesen Informationen recherchiert Kim Sperling weiter, fragt bei offiziellen Stellen nach. Doch die Spur verläuft im Sand.

Familienzusammenführung als TV-Show

Als die Suche an einem toten Punkt angekommen ist, überlegt Kim Sperling, welche Alternativen er hat. Die - durchaus gängige - Möglichkeit, mit seinem Anliegen in einer Fernsehshow aufzutreten, verwirft er. Das sei ihm zu kommerziell, sagt er. Stattdessen beginnt er mit einem Fotoprojekt für seine Diplomarbeit. Die Suche liegt auf Eis.

Nicht alle Adoptivkinder versuchen wie Kim Sperling tatsächlich aktiv, ihre Eltern zu finden. Das sei von Fall zu Fall verschieden, sagt Michael Heuer von terre des hommes. Einige seien " ganz versessen" auf Informationen, andere dagegen wollten gar nichts Genaues über ihre Herkunft erfahren. "Es gibt Kinder, die haben Angst davor, was diese Grenzerfahrung in ihnen auslöst."

Fragen im Raum

Seine Arbeit als Fotograf führt Kim Sperling in den Jahren danach immer wieder zurück nach Korea. In einem seiner Foto-Projekte porträtiert er Menschen wie sich selbst: Südkoreanische Adoptivkinder, die sich in ihrer Heimat auf Spurensuche begeben haben. Seine Mutter hat er bis heute nicht gefunden, die Frage, warum sie ihn als Baby weggegeben hat, bleibt offen. "Allerdings weiß ich von Freunden, dass man, selbst wenn man seine leiblichen Eltern findet und trifft, möglicherweise nie abschließende und zufriedenstellende Antworten bekommt."

Schlafende südkoreanische Baby-Zwillinge mit US-Flagge in der Hand (Foto: Michael Nagle/Getty Images)
Die meisten südkoreanischen Adoptivkinder wurden in die USA vermitteltBild: Michael Nagle/Getty Images

Wut oder Enttäuschung ihr gegenüber empfindet er nicht, sagt Kim Sperling. Vielleicht ist es am ehesten Neugier. Und der Wunsch, das "Loch in der eigenen Biografie" - wie er es nennt - zu füllen. "Wenn man als Adoptierter aufwächst, stellt man irgendwann fest, dass man Zeit seines Lebens niemanden gesehen oder gekannt hat, der so aussieht wie man selbst und der mit einem verwandt ist." Wie es ist, die Ähnlichkeit im Gesicht eines anderen Menschen zu sehen und sich wiederzuerkennen, diese Erfahrung hat Kim Sperling mittlerweile selbst machen können: Als Vater. "Zum ersten Mal habe ich das mit meinen eigenen Kindern erlebt."

Die Frage, ob er Deutscher oder Koreaner ist, kann Kim Sperling mittlerweile nicht mehr eindeutig beantworten. "Ich würde in vielen Punkten sagen, dass ich Koreaner oder beides bin." Durch die Tatsache, dass er mit einer koreanischen Frau verheiratet ist, spielt sich sein Leben auch im Alltag immer wieder zwischen zwei Welten ab. Korea, sagt er, sei ein Teil von ihm geworden, der nicht mehr wegzudenken ist. "Und ich glaube, das ist auch ganz gut so."