„Das prägt auch die Gedenkkultur in Deutschland und Polen“ | Presse | DW | 26.08.2009
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Presse

„Das prägt auch die Gedenkkultur in Deutschland und Polen“

Fragen an Professor Dr. Dieter Bingen, Direktor des Deutschen Polen-Instituts, wissenschaftlicher Begleiter der TV-Dokumentation „Hitlers Angriff – Wie der Zweite Weltkrieg begann“.

Dieter Bingen.

Dieter Bingen.

Es herrschen unterschiedliche Auffassungen, was den genauen Zeitpunkt und Ort des Kriegsbeginns betrifft. Es gibt den Beschuss der Westerplatte, andererseits die willkürliche Bombardierung Wieluńs…
Dieter Bingen: Die Bombardierung Wieluńs, der ersten Stadt im Westen Polens nahe der deutschen Grenze, war ein Symbol für den Terror, nicht eine normale Kriegsführung, auch nicht vergleichbar mit der Situation an der Wester­platte. Was wie viele Stunden früher begann, ist relativ gleichgültig. Es ging um das Prinzip und um eine Warnung. Auch um eine Übung, wie man weiter Krieg führen wollte, und zugleich ein Zeichen für einen Terror. Um ein Zeichen dafür, dass es nicht um einen „normalen Krieg“ ging, um territorialen Gewinn, sondern um eine Terrorisierung dieses Gebiets und der Menschen. Der Ort war strate­gisch unbedeutend und der Terror richtete sich gegen wehrlose Menschen. Es war ein Zeichen für diese Unmenschlichkeit des Regimes und ein Vorbote der weiteren Kriegsführung.

Hat Hitler den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs 1939 bewusst provoziert?
Dieter Bingen: Hitler wollte den Krieg und hat ihn einkalkuliert. Er war ja äußerst erfolgreich gewesen in den Jahren zuvor, zuletzt noch 1938 mit dem Münchener Abkommen und der Zerschlagung der Tschechoslowakei. Dann sahen im März 1939 die Westmächte, dass sie mit ihrer Appeasement-Politik nicht mehr weiterkamen – und sprachen Garantien gegenüber Polen aus. Zugleich wurden von Hitler For­derungen an Polen gestellt, die es nicht erfüllen konnte. Das wiederum hieß: Wenn Hitler seine Pläne in Mittel- und Osteuropa – sein Programm der rassi­schen Neuordnung Europas – realisieren wollte, konnte er dies nur gegen Polen und auf Kosten Polens tun. Hitler hat spätestens im Februar 1939 in einer Rede vor Truppenkommandeuren deutlich gemacht, was seine Neuordnungspläne für Osteuropa waren. Es konnte kein Zweifel bestehen, dass nunmehr Polen das nächste Opfer sein würde. Für den Überfall auf Polen gab es dann einen Vor­wand: den fingierten Überfall auf den Sender Gleiwitz am 31. August 1939. Das ist zum Anlass genommen worden, in der Nacht zum 1. September mit der Wehrmacht in Polen einzumarschieren.

Was waren Hitlers Motive für den Krieg?
Dieter Bingen: Es ging um die Vernichtung Polens als ersten Schritt für diese Neuordnung Europas im Osten. Und deshalb wollte er die Vorschläge für einen Ausgleich mit Polen nicht akzeptieren. Die Westmächte waren gezwungen zu reagieren. Für Hitler überraschend haben Großbritannien und Frankreich am 3. September Deutschland den Krieg erklärt. Aber da waren die deutschen Truppen schon den dritten Tag in Polen. Der Weg in den Krieg wäre so nicht vorstellbar gewesen, oder sehr viel schwerer, wenn es nicht den Hitler-Stalin-Pakt gegeben hätte.

Wofür brauchte Hitler Stalin?
Dieter Bingen: Er wollte einen Zwei-Fronten-Krieg vermeiden. Das heißt, im Osten freie Bahn zu haben und damit einen Unsicherheitsfaktor zu beseitigen – und gleichzeitig Stalin für eine gewisse Zeit das zu geben, was der sich durch ein Einverständnis bei den Westmächten für eine antifaschistische Politik auf Kosten Polens nehmen wollte. Hitler hat ihm mehr geboten, etwas, das direkt zu realisieren war. Mit dem geheimen Zusatzabkommen vom 24. August 1939 wurde die vierte Teilung Polens vorbereitet: Sollte Hitler in Polen einmarschieren, hätte auch die Rote Armee freie Hand, in den Osten Polens einzumarschieren, um sich dort mit den Deutschen an der vereinbarten Linie zu treffen. Das ist ja dieses Ungeheuerliche: Nach einem rein ideologischen Programm sollte eine Politik mit taktischen Ein­geständnissen und vorübergehenden Kompromissen durchgesetzt werden. Das ist weder von den westlichen Alliierten noch von der Sowjetunion verstanden worden.

Welche Rolle spielten deutsch-polnische Gegensätze?
Dieter Bingen: Es gab natürlich deutsch-polnische Auseinandersetzungen um Grenzen und seit 1919 einen territorialen Revisionismus von deutscher Seite. Andererseits bestand zwischen 1934 und 1938 ein Nichtangriffspakt zwischen Deutschland und Polen. Es gab aber seit Jahrhunderten auch deutsch-polnische Nachbarschaft, auch in den Gebieten, die nach 1919 von Deutschland an Polen gegangen waren. His­torisch also sehr unterschiedliche Erfahrungen. Aber das, was nach dem 1. Sep­tember 1939 geschehen ist, war für die polnische Bevölkerung, für die polnische Regierung völlig unvorstellbar gewesen. Dass Hitler die Besatzung dann inner­halb weniger Wochen beginnen würde mit einem Programm der Erniedrigung und Versklavung Polens, war für die Menschen dort ein ungeheurer Schock.

Man wurde überrascht und überrannt?
Dieter Bingen: Ja. Es war ein heldenhafter Widerstand, der von der Polnischen Armee über fünf Wochen geleistet worden ist. Aber ein Widerstand, der zum Scheitern verurteilt war, zumal es auch keine Entlastung vom Westen her gab. So war der polnische Staat innerhalb weniger Wochen – nach der gleichzeitigen Besetzung der östli­chen Landesteile durch die sowjetischen Truppen – von der Landkarte Europas verschwunden. Innerhalb kürzester Zeit begann schon die Unterdrückung, Ver­folgung und Ermordung von Teilen der polnischen Intelligenz, der führenden Schichten, derjenigen, die den Staat und die Gesellschaft trugen: um Terror zu verbreiten und gleichzeitig die Substanz der polnischen Nation und Kultur zu treffen.

Damit einher gingen die ersten Verfolgungen von polnischen Juden, der Beginn der Politik der Vernichtung der Juden Polens und Europas. Dies war alles schon in Ansätzen sichtbar mit ersten Pogromen und Übergriffen nicht nur von Son­dereinheiten, sondern teilweise auch mit Unterstützung der Wehrmacht.

Wie sehen Sie die Propaganda, die Deutschland 1939 gegen Polen betrieben hat, etwa die Berichte von Überfällen auf die sogenannten Volksdeutschen?
Dieter Bingen: Die Situation zwischen Deutschen und Polen war seit 1919 aufgeheizt. Es gab eine polnische Minderheitenpolitik nach 1922, die teilweise repressiv war. Es gab auch ein Zusammenleben zwischen sogenannten Volksdeutschen und Polen. Aber vor allem gab es im Deutschen Reich eine antislawische, eine antipolnische Grundeinstellung. Eine Verachtung des polnischen Staats und der polnischen Nation, die weit in die tragenden Schichten hinein ging. Polen wurde von den deutschen Eliten nicht ernst genommen. Das ist der große qualitative Unter­schied zum deutsch-französischen Verhältnis. Es gab angeblich eine deutsch-französische Erbfeindschaft, aber gleichwohl einen gegenseitigen Respekt vor den kulturellen Errungenschaften des anderen. Bei Teilen der preußischen Eliten war Französisch Kommunikationssprache. Im deutsch-polnischen Verhältnis gab es diesen Respekt von Seiten der deutschen Eliten nicht.

Diese Haltung ist im Rahmen eines gesamteuropäischen, sogenannten Kultur­gefälles zu sehen. Die jeweils westlicheren Nationen fühlten sich den östlicheren überlegen: die Polen den Ukrainern, die Deutschen den Polen, die Franzosen den Deutschen.

Hat Hitler Polen auch deswegen nicht ernst genommen
Dieter Bingen: Hitler hat Polen militärisch gewogen und die Einschätzung gehabt, dass man es wagen konnte, gegen Polen in den Krieg zu ziehen – wenn keine anderen Mächte gegen Deutschland Krieg führen würden. Insofern war die Überraschung groß, als England und Frankreich in den Krieg eingetreten sind. Das hat aber den Krieg gegen Polen nicht aufgehalten, weil es im Westen keinen Aufmarsch gegen Deutschland gab. Die Grenzen Deutschlands im Westen waren nicht gefährdet. Das Risiko für Hitler war also gering, zumal man – zu diesem Zeitpunkt und nur zum Zweck der Besetzung Polens – im Bündnis mit der Sowjetunion stand.

Sind der deutsche Überfall auf Polen und der Terror während der deutschen Besatzung in unserer Gedenkkultur hinreichend präsent?
Dieter Bingen: Bis heute ist es ein Thema zwischen Deutschen und Polen, wahrzunehmen, dass in Polen nicht nur ein Großteil der Vernichtung des europäischen Judentums in den deutschen Konzentrationslagern stattfand. Es geht schließlich auch um eine unmenschliche Versklavungspolitik, die Ermordung von Zehntausenden Angehö­rigen der polnischen Intelligenz durch die deutsche Besatzung. Eine ungeheuer unmenschliche und erniedrigende Politik gegenüber Polen – und später gegen­über Russen, Weißrussen, Ukrainern. Dies ist im deutschen Bewusstsein sehr viel weniger präsent als der Holocaust, die Ermordung der Millionen von europäi­schen Juden. Das prägt auch die Gedenkkultur in Deutschland und Polen. Wir müssen auch 2009 im deutsch-polnischen Diskurs darauf hinweisen, wie es wirk­lich gewesen ist.

Wie beurteilen Sie 70 Jahre nach Kriegsbeginn das deutsch-polnische Verhältnis?
Dieter Bingen: Angesichts deutscher nationalsozialistischer Polenpolitik im 20. Jahrhundert grenzt es an ein Wunder, wenn Deutsche und Polen ungeachtet von Problemen, die es alltäglich gibt, heute ein relativ freundschaftliches Verhältnis haben – und dass das deutsch-polnische Verhältnis sogar Vorbildcharakter für andere be­lastete Beziehungen hat. Es ist ein großer Sieg der Vernunft von Deutschen und von Polen. Es ist Zeichen eines großen Herzens bei den Polen und eines großen Umlernprozesses bei den Deutschen. Hier ist ein Potenzial, das weiter genutzt werden kann und muss.

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