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Das Schicksal der türkischen Minderheit in Bulgarien

Tatiana Vaksberg / Alexander Andreev22. Dezember 2014

Vor 30 Jahren startete das kommunistische Regime in Sofia die zwangsweise Assimilation der türkischen Minderheit. Bulgarische Türken mussten ihre Namen ändern und durften nicht mehr öffentlich Türkisch sprechen.

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Menschen mit vollbepackten Autos an der Grenze zur Türkei im Jahr 1989 (Foto: BTA)
Massenexodus bulgarischer Türken: Schlangen an der Grenze zur Türkei im Jahr 1989Bild: BTA

Bahtiyar Karaali wird nie vergessen, wie eines Morgens plötzlich zwei Polizisten mit Kalaschnikows in seinem Haus auftauchten. Der eine war sein Nachbar. "Entschuldigung, mein Freund, sagte er, du kommst jetzt mit uns. Man wird deinen Namen ändern, such dir einen neuen aus", erinnert sich Karaali, ein Angehöriger der türkischen Minderheit. "Aber wie soll ich das? erwiderte ich. Meinen Namen haben mir meine Eltern geschenkt, ich kann ihn unmöglich ändern."

Am 24. Dezember 1984 kreisen Armee- und Polizeieinheiten den Bezirk Kardschali in Südbulgarien ein, wo ein Großteil der Angehörigen der türkischen Minderheit lebt. Straßen werden blockiert, Telefonverbindungen gekappt und eine Ausgangssperre verhängt. Panzer und Wasserwerfer rücken vor, die bulgarischstämmige Zivilbevölkerung wird bewaffnet. Auf Anordnung aus Sofia wird das gesamte verfügbare Personal der Meldeämter nach Kardschali entsandt, um die türkische Minderheit mit neuen Papieren auszustatten. Unter dem Druck des Kriegsrechts werden alle Vertreter der Minderheit gezwungen, ihre türkischen Namen zu "bulgarisieren". Die neuen Personalausweise werden sofort ausgestellt. Türkisch darf nicht mehr öffentlich gesprochen werden, alle bis dahin bestehenden Minderheitenrechte werden zurückgenommen. Bis heute ist unklar, was die kommunistischen Machthaber in Bulgarien zu diesen diskriminierenden Maßnahmen gegen die türkische Minderheit bewogen hat.

Ein Opfer rief direkt bei der DW an

Die Proteste lassen nicht lange auf sich warten. Allein an den ersten Tagen beteiligen sich mehr als 11.000 Menschen daran, alles bleibt aber überwiegend friedlich. Nach offiziellen Angaben stellen die Sicherheitskräfte lediglich einige Messer und Stöcke aus Holz sicher. Zahlreiche Demonstranten werden trotzdem festgenommen und in einem Straflager auf der Donauinsel Belene eingesperrt. Unter ihnen ist auch Mastin Essirov. "Manche sind in den Wald geflohen, andere haben sich in Kellern oder Gartenlauben versteckt. Letztendlich aber hat man sie alle aufgespürt", erinnert er sich. "Zwei Jahre später wurde ich absurderweise dazu gezwungen, auch den Namen meines Großvaters zu ändern - obwohl er 16 Jahre vor meiner Geburt gestorben war."

Menschenenge bei einer Trauerfeier in Mogiljane, Bulgarien (Foto: BGNES)
Trauerfeier in Mogiljane: Hier wird der Opfer der Zwangsassimilation gedachtBild: BGNES

Bis Januar 1985 bleiben diese Aktionen geheim, doch die Nachrichten sickern langsam durch. Bahtiyar Karaali wandte sich damals an die Deutsche Welle: "Ich habe bei der Deutschen Welle angerufen, um darüber zu berichten, was hier alles passiert. Die Rufnummer habe ich auswendig gelernt, sie fing mit 0049 an."

Die Übergriffe der bulgarischen Regierung gegen die türkische Minderheit werden publik, nachdem der französische Präsident Francois Mitterand aus Protest seinen Staatsbesuch in Bulgarien kurzfristig absagt. Gleich danach verkündet die alleinregierende Kommunistische Partei in Bulgarien, die Aktion in Kardschali und in der Region sei erfolgreich abgeschlossen worden, man werde sie nun in den anderen Regionen des Landes mit einer türkischen Minderheit fortführen. Am 31. März 1985 geben die kommunistischen Machthaber bekannt, dass alle türkischen Namen geändert worden seien. Ab diesem Zeitpunkt wird intensiv daran gearbeitet, die neuen Namen in allen relevanten Registern einzutragen. Jeder Vertreter der türkischen Minderheit bekommt in den folgenden Jahren im Schnitt 19 neue Bescheinigungen und Urkunden - von der Geburtsurkunde über den Führerschein bis zu Patientenakten.

Massenexodus der bulgarischen Türken

Parallel dazu läuft auch der ideologische Teil der Kampagne. Die staatlich verordnete Menschenrechtsverletzung bekommt den wohlklingenden Namen "Wiedergeburt". Damit wird suggeriert, dass die türkische Minderheit durch die Assimilierungsmaßnahmen wieder zu ihren bulgarischen Wurzeln gefunden hätte. Die kommunistische Propaganda versucht, den Rest der Bevölkerung, aber auch die Weltöffentlichkeit zu überzeugen, dass es sich bei dem Assimilierungsversuch um eine freiwillige Entscheidung der türkischen Minderheit handele. Die Propagandabemühungen scheitern aber am wachsenden Widerstand. Im März 1985 verüben pro-türkische Terroristen einen Anschlag auf einen Personenzug, sieben Menschen sterben. Zwischen 1988 und 1989 entwickeln sich dann politische Formen des Protests, es entstehen Menschenrechtsorganisationen und Vereine zum Schutz der türkischen Minderheit.

Anfang 1989 stellen die kommunistischen Machthaber in Sofia fest, dass die Situation außer Kontrolle gerät, und meinen, dass nur eine Auswanderung der Angehörigen der türkischen Minderheit in Richtung Türkei den entstandenen Druck reduzieren könnte. Ende Mai 1989 wendet sich Partei- und Staatschef Todor Schivkov an die Bevölkerung mit dem Angebot, dass Ausreisewillige das Land verlassen können. Die Vertreter der türkischen Minderheit beginnen fieberhaft, ihr Hab und Gut zu verkaufen, um in die Türkei zu ziehen. Es entstehen chaotische Verhältnisse, in denen viele Bulgaren von dem Leid ihrer Mitbürger schamlos profitieren, indem sie ihnen Häuser zu Spottpreisen abkaufen und alte Fahrzeuge maßlos überteuert verkaufen. An den Grenzübergängen bilden sich kilometerlange Schlangen. Doch für viele bleibt das neue Leben in der Türkei nur ein Traum. "Wir haben das Auto vollgepackt - Gepäck, Fernseher, alles. Die Reisepässe hatten wir auch in der Tasche", erinnert sich Zeitzeuge Mastin Essirov. "Dann aber hat die Türkei die Grenze geschlossen und wir konnten nicht ausreisen." Nachdem über 300.000 bulgarische Staatsbürger in die Türkei ausgewandert sind, sieht sich Ankara Ende August 1989 dazu veranlasst, die Grenze zu schließen.

Stacheldrahtzaun an der Grenze zwischen Bulgarien und der Türkei (Foto: picture alliance/dpa)
Stacheldrahtzaun an der Grenze zwischen Bulgarien und der TürkeiBild: picture-alliance/dpa

Die Machthaber in Sofia versuchen, ihre Aktion zu rechtfertigen und die gesamte Schuld auf die türkische Minderheit zu schieben. Für den Massenexodus verwendet die Propaganda sogar den zynischen Begriff der "Großen Exkursion" und versucht die Öffentlichkeit zu überzeugen, dass die Menschen nur vorübergehend in die Türkei eingereist seien, um Verwandte zu besuchen. Doch die Propagandabemühungen scheitern. Wenige Monate später - am 10. November 1989 - wird der diskreditierte Schivkov von seinen Parteigenossen abgesetzt.

Nationalistische Parteien hetzen gegen türkische Minderheit

Zu den ersten Maßnahmen der neuen - noch immer kommunistischen - Regierung gehört die Wiederherstellung der Minderheitenrechte der bulgarischen Türken. Doch die Zwangsmaßnahmen gegen die türkische Minderheit haben die Atmosphäre im Land vergiftet. Um die Jahreswende beginnen Massenproteste von bulgarischen Nationalisten und Profiteuren der Auswanderung, die das Land an den Rand eines Bürgerkriegs führen.

1990 werden die Spannungen überwunden: durch die Gründung einer Partei der türkischen Minderheit, ein Gerichtsverfahren gegen hochrangige kommunistische Funktionäre wegen Menschenrechtsverletzungen und die schnelle Demokratisierung des Landes.

Zwei bulgarische Staatspräsidenten und ein Premier haben sich seitdem bei der türkischen Minderheit ausdrücklich entschuldigt, das Gerichtsverfahren ist allerdings nach mehreren Jahren eingestellt worden. Die meisten Auswanderer sind nicht zurückgekehrt. Fast zwanzig Jahre lang verlief das Zusammenleben der bulgarischen Mehrheit mit der türkischen Minderheit reibungslos. Beim Blick auf die vergangenen fünf Jahre warnen Soziologen aber wieder vor einer ablehnenden Haltung gegenüber der ethnischen Minderheit und einer Zunahme türkenfeindlicher Ausbrüche. Mehrere Kleinparteien, die zeitweise im bulgarischen Parlament vertreten waren oder immer noch sind, hetzen gegen die türkischen Bulgaren und kämpfen verbissen gegen deren Minderheitenrechte. Die Gefahr, dass die Spannungen wieder eskalieren könnten, ist daher nicht zu unterschätzen.