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Das stille Bild vom Tod

Florian Blaschke10. Juni 2006

Aufnahmen von Katastrophen, Unfällen, Mord und Totschlag - In der Ausstellung "(Tat)Orte" sind Fotos zu sehen, die eigentlich nicht gezeigt werden sollten. Sie wirft damit ethische Fragen auf.

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Einschußlöcher im Fenster eines Autos, in dem jemand ermordet wurdeBild: City of Los Angeles

Die Szene ist grausam: Auf der Avenida Chapultepec in Mexiko City steht ein zerbeulter Wagen, die Schriftstellerin Adele Rivas liegt tot, mit offenen Augen davor. Es ist der 29. April 1979 und der Fotograf Enrique Metinides ist vor Ort, um das Geschehen abzulichten. Und doch ist das Foto nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Es wird im Archiv landen, zu erschreckend, um abgedruckt zu werden. Nun aber findet sich genau diese Aufnahme im Museum wieder. Hat die Ethik verloren?

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Los Angeles: Polizisten stellen ein Verbrechen nachBild: City of Los Angeles

Über 100 Fotos hat Werner Lippert für die Ausstellung "(Tat)Orte" im Düsseldorfer NRW-Forum zusammengetragen. Sie stammen von den Reporterlegenden Arthur Fellig alias "Weegee", Enrique Metinides und Arnold Odermatt, sowie aus dem Archiv der Polizei von Los Angeles. Keine einfache Arbeit, bei der sich auch nach 18 Monaten Vorbereitungszeit keine Routine einstellen konnte. "Es kamen schon manchmal Zweifel auf", sagt Lippert. "Und man muss aufpassen, jede Dramatisierung und Inszenierung zu vermeiden." Was aber unterscheidet Pressefotos von Kunstwerken? Darf ihre Musealisierung moralische Aspekte in den Hintergrund drängen oder sogar ausschalten?

Rauschender Bilderstrom

Nun hat die Kunst noch nie einen Bogen um Grausamkeiten gemacht hat. Das beginnt bei Francisco Goyas "Schrecken des Krieges", geht über Gerhard Richters Zyklus über die terroristische RAF und Matthew Barney und endet - eben bei der Fotografie. "Sie ist das Medium, das in der Lage ist, den Tod festzuhalten", sagt Lippert. Und seit es sie gibt, hat sie genau das getan. Eigentlich aber scheint es doch so zu sein, dass unsere Gesellschaft keine Tabus mehr kennt. Wir haben bereits alles gesehen, meinen wir. Auf MTV und im Fernsehkrimi, in Computerspielen und im Kino. Dabei wird jedoch vergessen, dass die meisten unserer Quellen inszeniert sind. Und hier genau setzt die Ausstellung an.

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Weegees Stadt: Unter der Hochbahn in Bowery, New York

Denn das Gezeigte ist echt, unmittelbar und dadurch ergreifend. "Es gibt in unserer Mediengesellschaft einen Bilderstrom, der einfach vorbeirauscht", erklärt Lippert. "Und daneben gibt es Bilder, die etwas einfrieren". In diesem Fall auch den Betrachter. Denn eines unterscheidet diese Tatortfotos von den Bildern der Terroranschläge von London oder Madrid, des Vietnamkriegs oder von Katastrophenschauplätzen. Es ist das, was Lippert "das stille Bild" nennt, ein "Memento mori" - stummes Innehalten.

Die Seele der Stadt

Die emotionslosen Fotografien des LA Police Archive verkörpern dabei noch die absolute Neutralität der Dokumentation. Ganz anders aber die Arbeiten der drei Fotografen. Odermatts Willen zur Komposition beschrieb Harald Szeemann, der sie auf der Biennale in Venedig zeigte, als "Schönheit des Skulpturalen". Und die Fotos von "Weegee" sind manchmal eine reine Liebeserklärung an seine Heimat New York: "Ich hatte die Seele der Stadt fotografiert, die ich in- und auswendig kannte, und die ich liebte." Metinides' Bilder schließlich bezeichnet Lippert als die "absolute Härte", schonungslose Szenen von verbrannten, verstümmelten, grausam zugerichteten Menschen. Und doch - über den Ankauf einiger seiner Arbeiten verhandelt zurzeit sogar das New Yorker Museum of Modern Art. Irgendwann wird die tote Adele Rivas zwischen Ansel Adams und Man Ray hängen.

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Die Landschaft wird zur Bühne, wenn auch für einen schrecklichen UnfallBild: Urs Odermatt, Windisch, Springer & Winckler Galerie, Berlin

In Düsseldorf erscheinen die Arbeiten bereits im geschlossenen Rahmen des Museums. Das NRW-Forum zieht sich mit ihnen beinahe in ein Schneckenhaus zurück. Keine groß aufgezogenen Banner, keine eindrucksvollen Raumfluchten, sondern kleine, abgekapselte Abteilungen, die jeweils einem Fotografen gewidmet sind. Sie machen die Ausstellung zu einem intimen Erlebnis und verhindern unerwünschte Sensationsgier und Voyeurismus.

Bilder, die das Leben verändern

"Als Theater würde das Gezeigte angreifbar", meint Lippert. "Der Fotograf aber ist ein unschuldiger Mensch." Das demonstriert die Ausstellung in beeindruckender Weise. Vor allem aber zeigt sie eines: Es gibt Bilder, die das Leben verändern können, weil sie einen nicht mehr loslassen. Bilder, die in das kollektive Gedächtnis eingehen und zu Ikonen werden. Und somit hat die Ausstellung "(Tat)Orte" sogar eine didaktische Konsequenz: Sie lehrt uns, dass wir trotz tagtäglicher Bilderflut angreifbar und verletzlich sind. Sie bringt uns bei, über das Leben wieder erschüttert zu sein.