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Türkisches Wirtschaftswunder

Ayhan Simsek 28. Juni 2012

Die Türkei blickt auf einen Wirtschaftsboom von zehn Jahren zurück. Doch viele Experten zweifeln an der Zukunftsfähigkeit des türkischen Wirtschaftswunders und empfehlen daher Veränderungen.

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Zwei Öltanker in einem türkischen Hafen am Mittelmeer (Foto: AP)
Ein türkischer ErdölhafenBild: AP

Trotz der trüben Aussichten in Europa wächst die türkische Wirtschaft weiterhin sehr schnell. Dadurch wird das Land auch zu einem attraktiven Standort für ausländische Investoren. Im Jahr 2011 erreichte die Türkei ein Wirtschaftswachstum von fast 7,5 Prozent, für dieses Jahr erwartet die Regierung in Ankara ein Wachstum von weiteren vier Prozent. Die türkischen Exporte und Importe steigen, ein weiteres Zeichen für die Stärke der türkischen Wirtschaft, die inzwischen die siebtgrößte Europas ist und weltweit Platz 15 einnimmt. Außerdem verzeichnet die Türkei eine der niedrigsten Staatsverschuldungen in Europa, hinter Schweden und Tschechien: sie beträgt 42 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.

Diese positiven Entwicklungen haben dazu geführt, dass die Rating-Agentur Moody's die Bonität der Türkei vor einigen Tagen um eine Stufe aufgewertet hat: auf das Niveau Ba1. Das stärkt die Position des Landes als sich entwickelnde Wirtschaftsmacht.

Der türkische Wirtschaftsminister Zafer Caglayan sagt, die Aufwertung durch die Rating-Agentur sei "richtig, aber nicht genug". Er unterstreicht, dass sein Land früher auf Kredite des Internationalen Währungsfonds angewiesen war, aber jetzt sogar dem IWF zugesichert hat, selbst vier Milliarden Euro zum IWF-Krisenfonds beizutragen. Außerdem habe die Türkei ein geringeres Haushaltsloch als die meisten EU-Staaten. Deshalb erklärt Caglayan, sein Land verdiene eine noch bessere Bonitätsnote.

Nicht immun gegen die Krise

Viele Experten sind überzeugt, dass die Wirtschaftspolitik der türkischen Regierungspartei AKP eine Erfolgsgeschichte war. Doch sie geben zu bedenken, dass die türkische Wirtschaft nicht immun ist gegen externe Faktoren wie die Finanzkrise in Europa und negative Folgen des sehr schnellen Wirtschaftswachstums der vorigen Jahre.

Die türkische Flagge neben der EU-Fahne (Foto: dpa)
Die meisten Exporte der Türkei gehen in die EUBild: picture-alliance/dpa

Da die türkische Wirtschaft sehr stark von Europa abhängt, bedroht die europaweite Finanzkrise das Wirtschaftswachstum des Landes. 46 Prozent der türkischen Exporte gehen in die EU, außerdem kommen die meisten ausländischen Investitionen in der Türkei weiterhin aus Europa (76 Prozent). Mehr als drei Viertel der Touristen, die der Türkei Urlaub machen, sind Europäer.

Die Zukunftsfähigkeit des beeindruckenden türkischen Wirtschaftsaufschwungs der letzten zehn Jahre ist fraglich. Als die AKP-Partei 2002 an die Macht kam, lag das Bruttoinlandsprodukt des Landes bei 243 Milliarden Euro. 2010 ist es auf 550 Milliarden gestiegen, und die Exporte der Türkei haben sich mehr als verdoppelt.

Problem Leistungsbilanzdefizit

Viele Experten sehen das aktuell bestehende Leistungsbilanzdefizit der Türkei als potentielles Problem für die Zukunft der Wirtschaft. Dieses Defizit lag 2011 bei zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts – einer der höchsten Werte weltweit. Die Importe liegen in der Türkei immer noch weit unter den Exporten.

"Dieses Leistungsbilanzdefizit ist auch ein Symptom dafür, dass in der Türkei viel mehr konsumiert wird als gespart", sagt der renommierte türkische Wirtschaftswissenschaftler Suleyman Yasar. "Doch dieses Defizit kommt vor allem aus dem privaten Sektor, nicht aus dem öffentlichen. Und wir erwarten nicht, dass es zu einem großen Risiko für die Wirtschaft wird." Eine mögliche Lösung sei die Abwertung der türkischen Währung, meint Yasar. Dadurch könne man die Wettbewerbsfähigkeit steigern.

Warnung vor übertriebenem Optimismus

Wirtschaftswissenschaftler Mahfi Egilmez, ein ehemaliger Mitarbeiter des türkischen Finanzministeriums, betont, dass das aktuelle Leistungsbilanzdefizit ein integraler Bestandteil des türkischen Entwicklungsmodells war. Während die Spareinlagen in der Türkei den niedrigsten Stand seit 20 Jahren erreicht haben, finanziert das Land seine Investitionen durch ausländische finanzielle Quellen. Die Türkei habe eine importabhängige Wirtschaft, doch dieses Modell müsse geändert werden, meint Egilmez: "Die Türkei kann den Wirtschaftsboom der letzten zehn Jahre nicht mit diesem Modell für ein weiteres Jahrzehnt fortsetzen", schreibt der Experte in seinem Blog. "Das Land sollte ein neues Modell entwickeln, nach dem Prinzip: weniger Leistungsbilanzdefizit, höhere Produktion im Inland, in einem offenen Wettbewerb zum Ausland."

Ansicht eines sehr gut besuchten Strands in Antalya/Türkei (Foto: AP)
Auch die Touristen kommen hauptsächlich aus EU-StaatenBild: AP

Mit den jüngsten Entwicklungen der türkischen Wirtschaft ist Egilmez zufrieden: Im ersten Quartal dieses Jahres ist das Leistungsbilanzdefizit der Türkei wieder gesunken, und die Exporte sind im Vergleich zum Vorjahr gestiegen.

Während viele Experten der türkischen Wirtschaft eine sehr erfolgreiche Zukunft prophezeien, warnt Ökonom Mustafa Sonmez vor übertriebenem Optimismus. Er meint, dass die makro-ökonomischen Statistiken, die von der Regierung als Erfolgsgeschichte präsentiert werden, nur ein begrenztes Bild der Gesamtsituation der türkischen Wirtschaft bieten. Statistiken über das wachsende Bruttosozialprodukt, Exporte, Staatverschuldung und Leistungsbilanzdefizite seien zwar wichtig, aber nicht ausreichend für ein tieferes Verständnis der realen Situation. "Der durchschnittliche Monatslohn der Bürger liegt in der Türkei immer noch weit unter dem EU-Durchschnitt", gibt er in seinem Blog zu bedenken. "Die Menschen in der Türkei müssen mit etwa der Hälfte des EU-Durchschnittslohns auskommen."