1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

"Das Verfassungsgericht macht keine Politik"

6. September 2011

Das Bundesverfassungsgericht verkündet an diesem Mittwoch seine mit Spannung erwartete Entscheidung zum Euro-Rettungsschirm und der Griechenland-Hilfe. Das Urteil könnte massiven Einfluss auf die Politik haben.

https://p.dw.com/p/12TDo
Euromünzen auf deutscher, europäischer und griechischer Flagge (Foto: dapd)
Gegenstand der Klage in Karlsruhe: Der Euro-RettungschirmBild: dapd

DW-WORLD.DE: Herr Prof. Calliess, an diesem Mittwoch (07.09.2011) fällt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Sachen Euro-Rettungsschirm und Griechenland-Hilfe. Die Beschwerdeführer rügen unter anderem eine Verletzung des Grundrechts auf Eigentum, eine Beeinträchtigung des Wahlrechts, eine Verletzung des Demokratieprinzips und vor allem eine Beeinträchtigung des Budgetrechts des Bundestages. Ihrer Einschätzung nach zu Recht?

Prof. C. Calliess: Im Hinblick auf die Verletzung des Eigentumsrechts halte ich die Verfassungsbeschwerden für unzulässig. Denn das Eigentumsrecht umfasst nicht eine allgemeine Wertgarantie, gerade wenn es um die inflationsbedingte Geldentwertung geht. Das hat das Bundesverfassungsgericht auch schon mit Blick auf die Teilnahme Deutschlands an der Währungsunion klargestellt. In seinem Urteil von 1998 hat das Gericht hervorgehoben, dass der Staat den Geldwert aufgrund der Abhängigkeit von einer Vielzahl staatlicher, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Faktoren nicht garantieren kann. Was allerdings die Verletzung des Wahlrechts betrifft, gibt es eine vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Argumentation, die besagt, dass das Wahlrecht mit dem Demokratieprinzip gekoppelt ist: Der Einzelne hat über sein Recht auf Teilhabe an der demokratischen Legitimation der Staatsgewalt einen Hebel, um eine Verletzung des Demokratieprinzips zu rügen - auch bei einer Verletzung der Kompetenzordnung der Europäischen Verträge. Eine solche Verletzung könnte hier in einem Verstoß gegen das vertraglich vorgesehene Bail-Out-Verbot liegen, also das Verbot, den Schuldenstaaten zu helfen. Unklar ist aber, ob sich die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerden allein aus dieser Kopplung Wahlrecht - Demokratieprinzip - Kompetenzeinhaltung auf europäischer Ebene ergeben kann oder ob nicht zusätzlich noch eine spezifische Grundrechtsverletzung erforderlich ist.

Welche Rolle spielt die von den Beschwerdeführern genannte Verletzung des Budgetrechts des Bundestages? Sie wird ja derzeit am kontroversesten diskutiert.

Genau. Der Ansatz ist hier, über die Haushaltsautonomie des Deutschen Bundestages vorzugehen: Wenn sie ausgehöhlt wird, könnte das auch eine Verletzung des Wahlrechts aus Artikel 38 des Grundgesetzes darstellen. Insoweit halte ich das Vorbringen partiell auch für berechtigt. Ich gehe davon aus, dass das Bundesverfassungsgericht verfassungsrechtliche Vorgaben für die Wahrung des von den Richtern in der mündlichen Verhandlung als Kronjuwel des Parlaments bezeichneten Budgetrechts entwickeln wird. Das Ziel wird meines Erachtens sein, die nationale Haushaltsautonomie aufrecht zu erhalten, gerade auch mit Blick auf die parlamentarische Begleitung von Auszahlungen aus dem Rettungsschirm an Not leidende Mitgliedstaaten.

Christian Calliess, Freie Universität Berlin, Fachbereich Rechtswissenschaft (Foto: C. Calliess)
Der Europarechtler Christian Calliess von der FU BerlinBild: FU Berlin

Das heißt, Sie erwarten schon, dass das Bundesverfassungsgericht einen Verstoß gegen das Grundgesetz feststellen könnte?

So pauschal kann man das nicht sagen; insoweit muss man sauber differenzieren: Einerseits wird mit Griechenlandhilfe und Rettungsschirm zwar in das parlamentarische Budgetrecht eingegriffen, indem Bürgschaften für Kredite übernommen werden, die möglicherweise ausfallen. Andererseits ist es meiner Meinung nach richtig und auch durchaus wahrscheinlich, dass das BVerfG - jedenfalls wenn man die Ausführungen des Gerichts im Urteil zum Vertrag von Lissabon zugrundelegt - nicht den verfassungsrechtlich relevanten Kern des Budgetrechts verletzt sieht. Allein dieser kann im Rahmen der gerichtlichen Kontrolle eine Bedeutung haben.

Was wäre denn die Konsequenz: Müsste man dann den Rettungsschirm und die Griechenland-Hilfe kippen, sowohl rückwirkend als auch zukünftig?

Ich denke, dass das Bundesverfassungsgericht dementsprechend eher Vorgaben für die Zukunft machen wird. Es ist sehr schwierig, diese unter großem politischem Zugzwang entstandenen Entscheidungen, die ja auch eine weitreichende wirtschaftpolitische Tragweite haben, im Nachhinein zu korrigieren. Ich denke, dass das Bundesverfassungsgericht den politischen Einschätzungsspielraum, den so genannten Prognosespielraum der Regierung, zum damaligen Zeitpunkt der Entscheidungsfindung beachten muss. Denn wir können ja nicht im Nachhinein alles korrigieren und sagen, wir wissen es heute im Rückblick besser. Man kann also höchstens sicherstellen, dass das Parlament beim permanenten Rettungsschirm, dem ESM, der ab 2013 gelten soll, besser beteiligt wird. Das läge auch auf der Linie des Bundesverfassungsgerichts, das ja schon in seiner Lissabon-Entscheidung eine verstärkte so genannte Integrationsverantwortung des Deutschen Bundestags angemahnt hat. Ich glaube also, dass das Urteil hier mit Blick auf die beschränkte Kontrolle, die im Nachhinein ausgeübt werden kann, seinen Blick eher in die Zukunft richten wird. So ist es vorstellbar, dass bei grundlegenden Entscheidungen im Rahmen des Rettungsschirms, also wenn es zum Beispiel um Auszahlungen an einen in Not geratenen Mitgliedstaat und deren Bedingungen geht, auf europäischer Ebene einstimmig zu entscheiden ist. Dann hätte der deutsche Regierungsvertreter ein Vetorecht, auf das der Bundestag im Rahmen seiner Beteiligung einwirken könnte, etwa durch eine Weisung, von der nur ganz ausnahmsweise abgewichen werden kann. Letztlich bin ich natürlich kein Hellseher und kann nur meine Einschätzung abgeben. Aber ich weiß nicht, wie man die bisherigen Rettungsmaßnahmen, die doch sehr stark politisch geprägt sind, im Nachhinein als verfassungswidrig brandmarken sollte.

Aber die Beschwerdeführer erhoffen sich ja genau das von dem Urteil und wünschen sich einen sofortigen Ausstieg aus allen Rettungsmaßnahmen. Ist denn eine solche Entscheidung nicht doch sehr beeinflusst von der Politik und gar nicht so frei, wie man sich das vom höchsten deutschen Gericht wünschen würde?

Man muss der Versuchung widerstehen, durch Verfassungsrecht Politik machen zu wollen. Obwohl die Beschwerdeführer immer wieder kritisiert haben, dass das Verfassungsgericht in den vorliegenden Verfahren nicht frei entscheide und sich politischen Notwendigkeiten beuge, wollen sie im Kern selbst eine politische Entscheidung. Aber der Zweite Senat hat schon in der mündlichen Verhandlung deutlich gemacht, dass er nicht über wirtschaftspolitische Fragen entscheiden wird, sondern den Fall nur juristisch beurteilen kann. Und juristisch ist die Beurteilung eben durch den verfassungsrechtlichen Rahmen vorgegeben. Insoweit ist mit Blick auf die gerügte Verletzung des Budgetrechts zu berücksichtigen, dass das Parlament den Hilfen an Griechenland und dem Rettungsschirm ja zugestimmt hat. Der Bundestag ist also nicht vollständig übergangen worden, so dass eine Verletzung der Budgethoheit, die ja nicht jede einzelne Auszahlung an Griechenland, sondern letztlich den Gesamthaushalt betrifft, nicht alles kippen kann. Sicherlich hätte man sich intensivere Debatten im Bundestag gewünscht, eine engere Einbindung des Bundestages. Das lässt sich im Nachhinein aber nicht mehr korrigieren. Jetzt geht es vielmehr darum, dass der Bundestag seine Rechte in Zukunft mit Blick auf den permanenten Rettungsschirm nicht verliert, dass nicht die Regierung diejenige ist, die die Auszahlung im Europäischen Rat genehmigt und der Bundestag nichts mehr zu melden hat. Das ist aber ein Zukunftsproblem.

Leistet das Bundesverfassungsgericht jetzt Entscheidungshilfe für die Abgeordneten, die ja noch über den permanenten Rettungsschirm abstimmen müssen? Kommt das Urteil vorab ganz gelegen?

Ja, ich denke schon, dass das Bundesverfassungsgericht vielleicht auch deshalb so terminiert hat, aber das ist natürlich Spekulation. Trotzdem ist einerseits mit Blick auf die Beschwerdeführer und ihren Rechtschutz und andererseits mit Blick auf die laufende politische Debatte eine schnelle Entscheidung angebracht gewesen. Es wird den Bundestag stärken, wenn das Bundesverfassungsgericht entscheidet: Beim permanenten Rettungsschirm, bei dem gar nicht absehbar ist, an welche Staaten möglicherweise solche Hilfszahlungen gehen, darf nicht völlig losgelöst von den nationalen Parlamenten agiert werden.

Das Interview führte Daphne Grathwohl
Redaktion: Rolf Wenkel