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"Das Ziel war, Terror zu verbreiten"

Sarah Judith Hofmann12. August 2014

70 Jahre nach dem SS-Massaker im italienischen Sant'Anna di Stazzema könnte es zu einer Anklage kommen. Der Prozessgutachter Carlo Gentile über das brutale Vorgehen der SS und die späte Genugtuung der Opfer.

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Sant' Anna di Stazzema Denkmal für die Opfer der SS Massaker
Denkmal für die Opfer des SS-Massakers in Sant'Anna di StazzemaBild: AFP/Getty Images

Am 12. August 1944 - vor 70 Jahren - verübte die SS ein Massaker im Toskana-Dorf Sant'Anna di Stazzema. Mindestens 560 Menschen wurden dabei erschossen, die meisten von ihnen: Frauen, Kinder und Alte. In Deutschland wurde für diese Taten bisher gegen keinen einzigen der Beschuldigten Anklage erhoben; die 2005 in Abwesenheit der ehemaligen SS-Soldaten in Italien ergangenen Urteile wurden nie vollstreckt. Das Oberlandesgericht Karlsruhe hat vor wenigen Tagen entschieden, dass gegen den 93jährigen in Hamburg lebenden damaligen Kompaniechef Gerhard Sommer Anklage erhoben werden kann. Damit wischt das Gericht die Entscheidungen anderer Instanzen vom Tisch. Der Fall liegt inzwischen bei der Staatsanwaltschaft Hamburg, die bereits mitgeteilt hat, dass sie schnell über eine Anklage entscheiden will.

DW: Herr Gentile, mit welchen Gefühlen haben Sie diese Nachricht aufgenommen?

Carlo Gentile: Ich freue mich sehr, dass die Entscheidung des Oberlandesgerichts Karlsruhe die Diskussion um den Fall von Sant'Anna di Stazzema wieder zurück auf den Boden der historischen Fakten geholt hat. Das war 2012 in Stuttgart bei der Entscheidung, keine Anklage gegen die Tatverdächtigen zu erheben, nicht der Fall. Und das haben wir – Gabriele Heinecke als Angehörigen-Anwältin und ich als Gutachter – damals kritisiert.

Ist es heute – 70 Jahre später – nicht schon zu spät? Die meisten der einst Tatverdächtigen sind inzwischen gestorben. Der Kompanieführer Gerhard Sommer, dessen Fall jetzt bei der Staatsanwaltschaft Hamburg liegt, war 1944 ein junger Offizier der SS, inzwischen ist er 93 Jahre alt …

Es geht nicht darum, wie alt der Täter ist oder wie viel Zeit seit den Taten vergangen ist. Es leben noch Tatverdächtige und Zeugen. Und die Taten sind nicht verjährt. Da hat die Justiz gar keine andere Wahl, als Ermittlungen zu führen und einen Prozess anzustreben. In Italien sind die Prozess-Entscheidungen bereits Anfang der 2000er Jahre gefällt worden. Bis zur Einstellung des Verfahrens sind dann aber weitere acht bis zehn Jahre vergangen. In dieser Zeit sind sehr viele Tatverdächtige gestorben.

Gauck gedenkt der Opfer des SS-Massakers in Sant'Anna di Stazzema
Im März 2013 besuchte Bundespräsident Joachim Gauck Sant'Anna di Stazzema und gedachte der OpferBild: picture alliance / dpa

Von dem "Schrank der Schande", in dem in Italien jahrzehntelang wichtige Dokumente aus der NS-Zeit unter Verschluss gehalten wurden, bis hin zur Weigerung deutscher Gerichte die wenigen überlebenden Tatverdächtigen vor Gericht zu bringen, hat man den Eindruck, die Aufarbeitung des Massakers ist ein einziges Desaster. Warum hat es so lange gedauert bis Tatverdächtige zur Rechenschaft gezogen werden?

Im Prinzip hat man an dem Fall Sant'Anna di Stazzema, wie in vielen Fällen von Massakern in Italien, 70 Jahre lang ermittelt. Die Ermittlungen im Fall von Sant'Anna beginnen im September 1944 durch amerikanische Untersuchungskommissionen, unmittelbar nach der Befreiung der Region. Bereits wenige Tage nach dem Einmarsch der Amerikaner gingen schon amerikanische Offiziere nach Sant'Anna di Stazzema, sammelten Beweise und luden die ersten Zeugen vor. Der Fall spielte dann auch bei Verfahren 1947 und 1951 eine Rolle. Aber erst Mitte der 90er Jahre fanden Historiker heraus, dass eine ganz andere Einheit als zunächst angenommen, verantwortlich war. Das hat die italienische Justiz, die inzwischen auch die Akten aus dem sogenannten "Schrank der Schande" in Augenschein genommen hatte, auf den Plan gerufen und die neue Welle von Ermittlungen in die Wege geleitet, die ich dann ab 1996 persönlich begleitet habe.

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Dem Erdboden gleichgemacht: das toskanische Dorf Sant'Anna di Stazzema nach dem 12. August 1944Bild: picture-alliance/dpa

Sie haben seither als Historiker das Massaker von Sant'Anna tiefgreifend erforscht. Können Sie grob skizzieren, wie die SS vorging?

Das Vorgehen der SS in Sant'Anna di Stazzema entsprach im Großen und Ganzen dem Vorgehen aller solcher Ereignisse, die in Italien 1944 von Verbänden wie der 16. Panzergrenadierdivision SS "Reichsführer SS" verübt worden sind. Und es entspricht dem Vorgehen anderer Massaker, die bereits zuvor von der SS im Osten verübt worden sind. Die Dörfer wurden umzingelt, Gruppen von Soldaten sind dann in das Dorf hineingegangen, haben die Bevölkerung aus den Häusern geholt und an verschiedenen Stellen konzentriert – zum Beispiel auf dem Kirchplatz von Sant'Anna aber auch in Ställen und Scheunen – und sind dann durch den Wurf von Handgranaten und durch Schüsse aus Maschinenpistolen und Gewehren, getötet worden. Danach sind die Leichen mit Brennmaterial übergossen worden und mit Holz, Stroh und Möbeln in Brand gesteckt worden.

In Sant'Anna di Stazzema wurden 560 Menschen getötet, alles Zivilisten, darunter in erster Linie Frauen, Alte und Kinder. Was bezweckte die SS mit solch einem grausamen Vorgehen?

Solche Massaker hatten verschiedene Funktionen. Einerseits sollten sie die Bevölkerung und Partisanen abschrecken. Wir stellen aber fest, dass in vielen Fällen die Soldaten sich gar nicht die Mühe machten, gegen Partisanen vorzugehen, sondern direkt die Zivilbevölkerung angriffen. Das Ziel war, Terror zu verbreiten. Hinzu kommt, dass wenige Tage vor dem Massaker von Sant'Anna di Stazzema deutsche Soldaten von Partisanen angegriffen worden waren – es ging also auch um Rache. Man wollte durch das Massaker die Verluste, die man durch die Partisanen erlitten hatte, vergelten.

Verantwortlich für das Massaker war die 16. SS-Panzergrenadierdivision "Reichsführer SS". Was wissen Sie über diese Division? Worin unterschied diese sich von anderen deutschen Divisionen in Italien?

Die 16. SS-Panzergrenadierdivision "Reichsführer SS" stellt einen besonderen Fall dar, weil ihre Verbrechen größer, häufiger und brutaler gewesen sind, als die der meisten anderen deutschen Divisionen in Italien. In dem Bereich, in dem die Division agierte, sind besonders viele Kriegsverbrechen geschehen - über ein Dutzend größere Vorfälle, in denen Zivilisten getötet worden sind, durch Dorfvernichtungsaktionen wie in Sant'Anna und weiteren Dörfern, oder durch die Erschießung von gefangenen oder nicht arbeitsfähigen Zivilisten. Sie hat gezielt Krieg gegen die Zivilbevölkerung geführt. Das können wir ganz klar anhand der Opfer sagen, von tatsächlichen Partisanen wurden nur wenige Dutzend getötet.

Dr. Carlo Gentile
Historiker und Prozessgutachter Carlo GentileBild: Manfred Wegener

Sie stehen seit Jahren in engem Kontakt mit den Opfern. Was bedeutet eine mögliche neue Anklage gegen einen der mutmaßlichen Täter für die Opfer?

Die Täter, um die es größtenteils geht, wurden bereits 2004 in Italien verurteilt. Daher spielt die Entscheidung des Oberlandesgerichts Karlsruhe eher eine Rolle in der Auseinandersetzung mit der deutschen Justiz, die sehr lange gebraucht hat, um endlich auf denselben Stand wie in Italien zu kommen. Dass dies jetzt geschieht, ist sicherlich eine Genugtuung für die Opfer.

Das Interview führte Sarah Judith Hofmann

Dr. Carlo Gentile arbeitet am Martin-Buber-Institut für Judaistik der Universität Köln. Die Forschungsbereiche des Historikers sind unter anderem Antisemitismus, Nationalsozialismus und Faschismus. Er ist zudem als Gutachter und Sachverständiger bei Strafverfahren wegen Kriegsverbrechen in Deutschland, Italien und Kanada tätig.

Zum Weiterlesen: "Das Massaker von Sant'Anna di Stazzema". Mit den Erinnerungen von Enio Mancini. Herausgegeben von Gabriele Heinecke, Christiane Kohl und Maren Westermann. Laika Verlag, 2014.