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"Antisemitische Politik"

Andrea Grunau12. Mai 2015

1965 nahm die Bundesrepublik Deutschland diplomatische Beziehungen zu Israel auf. Die DDR, der zweite deutsche Staat, tat das nie. Die Gründe dafür nennt der Potsdamer Historiker Mario Keßler im DW-Interview.

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Rudolf Slansky (Mi.)während des Schauprozesses 1952
Rudolf Slansky (Mi.) stand im Zentrum antisemitischer Prozesse in der Tschechoslowakei. Er wurde 1952 hingerichtetBild: picture-alliance/dpa/CTK

DW: Herr Professor Keßler, wie stand die DDR zum Staat Israel?

Mario Keßler: Das war ein Nicht-Verhältnis. Es gab nie diplomatische Beziehungen zwischen beiden Staaten, doch es gab Höhen und Tiefen. Die Gründung des Staates Israel 1948 wurde von der SED ausdrücklich begrüßt, die DDR gab es noch nicht. Das Verhältnis verschlechterte sich, nachdem die Sowjetunion 1949 auf einen anti-israelischen Kurs umsteuerte. Die soeben gegründete DDR, die ja politisch völlig von der Sowjetunion abhängig war, musste nachziehen.

Einen Sündenbock fand die SED-Führung in Berlin in dem nicht-jüdischen Politbüro-Mitglied Paul Merker. Er hatte sich im mexikanischen Exil zu einem demokratisch denkenden Kommunisten gewandelt. Für ihn war es Herzenssache, dass den Juden, auch den aus Deutschland vertriebenen, die größtmögliche materielle und moralische "Wiedergutmachung" oder "Entschädigung" zuteil werden sollte. Dies wurde von der DDR-Führung analog zur Moskauer Linie abgelehnt mit der Begründung, Merker wolle den "Ausverkauf der DDR", die "Verschiebung deutschen Volksvermögens" und die "Stärkung des zionistisch-kapitalistischen Israels". Er wurde aus dem Politbüro ausgeschlossen, verhaftet und noch nach Stalins Tod in einem Geheimprozess verurteilt. Er wurde erst 1956 aus dem Gefängnis entlassen, aber nur halbherzig rehabilitiert. Das bildet den dunkelsten Punkt im Verhältnis der DDR zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit. Die Rechtsnachfolge Nazi-Deutschlands und damit die Verantwortung für die NS-Verbrechen lehnte man ab.

Viele Juden haben die DDR verlassen, war die DDR ein antisemitischer Staat?

So pauschal würde ich das nicht sagen, aber die DDR trug die antisemitische Politik Stalins mit. Anfang der 1950er Jahre startete die Sowjetunion ihre Kampagne gegen jüdische Intellektuelle. In der Tschechoslowakei gab es den antisemitischen Slansky-Prozess: Jüdische Kommunisten wurden unter der absurden Beschuldigung, "Handlanger des Zionismus" zu sein, zum Tode verurteilt und hingerichtet. Da brach auch in der DDR Panik in den jüdischen Gemeinden aus. Fünf der acht Gemeindevorsteher gingen außer Landes, insgesamt schätzt man, dass 400 Juden Anfang 1953 die DDR verließen.

Prof. Dr. Mario Keßler (Foto: Mario Keßler)
Professor Mario KeßlerBild: Zentrum für Zeithistorische Forschung/J.Runge

Es war ja eine bedeutende Zahl jüdischer und nicht-jüdischer Emigranten nach dem Krieg in die Ostzone Deutschlands zurück gekehrt. 1945/46 war noch nicht absehbar, dass die spätere DDR eine solch furchtbare Wendung im Verhältnis zu den Juden nehmen würde. Viele kamen auch deshalb, weil im Kalten Krieg das Klima im Westen immer rauher wurde für alle mit kommunistischer Vergangenheit oder Gegenwart. Diese Menschen waren alle durch den Slansky-Prozess wie durch die Verurteilung Merkers als "Pro-Zionist" erschüttert. Trotzdem blieben sie als überzeugte Kommunisten loyal zur DDR eingestellt.

In der Presse der DDR fanden sich bei der Beurteilung Israels Klischees, die antisemitischem Denken Vorschub leisteten. Aber Juden konnten sich in der DDR - nach 1953, wie ich einschränkend sagen muss - sicher fühlen. Dass der eine oder andere sehr vorsichtig mit seinem Judentum in der Öffentlichkeit umging, ist angesichts der jüngeren deutschen Geschichte nicht verwunderlich.

Wie ging es mit dem Verhältnis der DDR zu Israel weiter?

Das Verhältnis zu Israel erfuhr 1967 im Zuge des Sechstagekriegs gegen Ägypten, Syrien und Jordanien einen weiteren Tiefpunkt. 1967 stellte sich die DDR voll auf die Seite der arabischen Staaten. Walter Ulbricht nannte Israel eine "Speerspitze des Imperialismus im Vorderen Orient". Es ging natürlich auch darum, dass die DDR im Kalten Krieg nach diplomatischer Anerkennung suchte. Es gab 22 arabische Staaten und nur einen Staat Israel.

Walter Ulbricht (li.) mit dem ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser (Foto: picture-alliance/dpa/Z. Nagati)
DDR-Staatschef Walter Ulbricht (li.) zu Gast beim ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel NasserBild: picture-alliance/dpa/Z. Nagati

In den 1980er Jahren gab es unterhalb der diplomatischen Ebene Entspannung und zaghafte kulturelle Kontakte zwischen der DDR und Israel. Die Regierung Modrow erklärte sich nach der Maueröffnung dann bereit, Entschädigungsforderungen Israels entgegenzukommen, war aber aufgrund finanzieller Engpässe der DDR überhaupt nicht in der Lage, noch etwas dafür zu tun. Die erste frei gewählte Volkskammer 1990 verurteilte allerdings - da waren sich alle Fraktionen einig! - die Politik gegenüber Israel.

Wie lautete diese Entschuldigung?

Am 12. April 1990 hieß es in einer von allen Parteien getragenen Erklärung der Volkskammer: "Wir bitten die Juden in aller Welt um Verzeihung für Heuchelei und Feindseligkeit der offiziellen DDR-Politik gegenüber dem Staat Israel und für die Verfolgung und Entwürdigung jüdischer Mitbürger auch nach 1945 in unserem Land." Das ist schon sehr deutlich. Die DDR war kurz darauf Geschichte.

Prof. Dr. Mario Keßler ist Historiker am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam (ZZF). Er unterrichtet an der Universität Potsdam und lehrte als Gastprofessor unter anderem an der Yeshiva-Universität in New York.

Das Interview führte Andrea Grunau.