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Gedenken an die Toten

Antje Passenheim, Washington15. März 2014

Keiner weiß die genaue Zahl der Toten. Selbst die UN haben aufgehört, sie zu schätzen. Doch die weit über 100.000 Opfer des Syrien-Kriegs haben ein Gesicht. Daran erinnert eine Marathonlesung in Washington.

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Demonstranten in Washington erinnern an die Syrien-Opfer (Foto: Antje Passenheim)
Bild: DW/A. Passenheim

Wenn US-Präsident Barack Obama ein Fenster öffnen würde - er könnte sie vielleicht hören. Die Namen, die in einem fort durch den Zaun des Weißen Hauses über seinen Rasen tönen. Durch Scharen von Touristen hindurch. An Eltern mit ihren Kindern vorbei, Schulklassen und Besuchern aus aller Welt.

Während sie sich gegenseitig in bester Laune vor der Residenz des mächtigen Präsidenten fotografieren, steht wenige Meter entfernt ein Student mit einer kleinen Lautsprecheranlage. Monoton liest er die Liste der Toten von einem iPad ab. Es sei der Versuch, der Statistik des Grauens ein Gesicht zu geben, erklärt einer der Veranstalter, Racan Alhoch. "72 Stunden werden wir vor dem Weißen Haus stehen, um in Schichten die Namen von 100.000 Menschen zu verlesen, die im Syrien-Krieg ums Leben gekommen sind", erklärt Racan. "Sie wurden vom Assad-Regime getötet." Inzwischen, drei Jahre nach Beginn des Konflikts, seien es fast 150.000 Tote, doch... Racan zuckt die Schultern.

Endlose Liste

Es brauchte noch mindestens einen weiteren Tag, um die restlichen Namen zu verlesen. Zumal die Liste ja täglich länger werde. Stunden haben die Aktivisten bereits ausgeharrt in eisiger Kälte und beißendem Wind. Ein Halbzelt, um sich wenigstens davor zu schützen, haben sie nicht. "Nein", sagt Racan mit Blick auf die Polizisten, die alles friedlich zurückhaltend beobachten. "Das erlauben sie uns nicht." Er lacht. "Wir haben Handschuhe und Handwärmer."

Vor allem aber haben die rund 100 Freiwilligen, die aus allen Teilen der USA nach Washington gereist sind, eine Botschaft: Sie erinnern an den dritten Jahrestag eines Konflikts, der in der Welt in Vergessenheit zu geraten droht. Mit ihrer Mahnwache wollen die Aktivisten verschiedener Gruppen diesem Konflikt ein Gesicht geben."Es ist wichtig, an die Toten in Syrien zu erinnern. Täglich lesen wir neue Berichte: Weitere 100, 200 Tote in Syrien. Aber sie haben Namen. Sie sind nicht nur Nummern", erklärt Racan.

Demonstranten in Washington erinnern an die Syrien-Opfer (Foto: Antje Passenheim)
Vorlesen, um nicht zu vergessenBild: DW/A. Passenheim

Drei Jahre nach Beginn des Aufstands gegen das Regime von Diktator Baschar al-Assad, der zum blutigen Bürgerkrieg wurde, ist die Tragödie aus den Primetime-Nachrichten verschwunden. Andere Konflikte beherrschen inzwischen die Schlagzeilen.

Doch das Sterben in Damaskus, Aleppo, Homs und anderen Orten geht weiter, sagt Nur, eine Studentin aus Los Angeles. Die Aktion sei ihr sehr wichtig. Sie fühle sich dadurch ihrer Heimat nahe, erklärt die in Schal und Mütze eingemummelte Frau, deren Familie aus einem Vorort von Damaskus stammt. Ob sich auch ihre Verwandten auf der Todesliste befinden? "Natürlich!", bricht es aus ihr heraus. Sie kenne keinen einzigen Syrer, der nicht einen der Toten in diesem Konflikt kenne. Jeder sei von der Krise betroffen. "In einem Teil meiner Familie gibt es 20 Waisenkinder", erzählt sie. "Verwandte von mir sind gefoltert oder hingerichtet worden. Oder sitzen im Gefängnis. Seit drei Jahren wissen wir nicht, ob sie tot oder lebendig sind."

Den Toten einen Namen geben

Am Mikrofon ist Schichtablösung. Ein anderer Mann übernimmt. Eine Gruppe junger Touristen kommt vorbei. Neugierig knipsen sie den verfrorenen Vorleser, bevor sie staunend und lachend auf den Zaun des Weißen Hauses zusteuern. Keiner von ihnen fragt, was diese Namen bedeuten. Doch auf Racan steuert ein irischer Tourist zu. Das, was hier geschehe, sei absolut bewundernswert. "Du kannst in ein paar Sekunden sagen, dass 100.000 Menschen gestorben sind", erklärt er. "Aber es ist etwas anderes, jeden Namen zu nennen. Denn jeder Name ist ein Mensch."

Zuviele Menschen seien schon in diesem Konflikt gestorben, erklärt ein irakisch-stämmiger Amerikaner aus Michigan, der sich dazugesellt. Wie die meisten Schaulustigen ist er überrascht über die Zahl der Toten, die dieser schwelende Konflikt bis heute gefordert hat. Das sei traurig, meint wiederum Mitveranstalter Racan. Wo diese Zahlen doch dauernd durch die Nachrichten geisterten. Er denke, dieser Konflikt sei von Anfang an von der Welt vernachlässigt worden. "Die geopolitischen Zusammenhänge sind einfach zu kompliziert für die Leute." Daher sei es wichtig, ihnen die Menschen hinter dieser Politik näherzubringen.

Massengrab in Syrien (Foto: picture alliance)
Das Sterben in Syrien geht weiterBild: picture alliance/ZUMA Press

Ein vergessener Konflikt?

Auch in der amerikanischen Öffentlichkeit stellt sich öfter die Frage, ob die Weltgemeinschaft genug tut, um zu helfen, den Konflikt zu beenden. Ob es nicht an der Zeit wäre, zuzugeben, dass Obama mit seiner Syrien-Politik absolut versagt habe, wollte vor einigen Tagen ein Journalist in der Pressekonferenz des Weißen Hauses von Präsidentensprecher Jay Carney wissen. Obama war für seine zaghafte Haltung gegenüber Machthaber Assad lange gescholten worden. Dann zog er Assad eine "rote Linie." Als Assad diese Linie mit dem Einsatz von Chemiewaffen überschritt, machte der US-Präsident in letzter Minute einen Rückzieher und nahm die internationale Gemeinschaft in die Pflicht. Unter ihren Augen - auch mit Hilfe der Bundeswehr - sollen die Chemiewaffen bis zum Juni vernichtet werden. Dem hat Assad zugestimmt. Doch das Morden in Syrien geht trotzdem weiter.

Solange nämlich, meinen die Demonstranten vor dem Weißen Haus, bis das Assad-Regime abgesetzt ist. "Wenn du eine Wunde hast", sagt Aktivistin Nur, "dann musst du zuerst die Blutung stillen". Und das syrische Regime sei die Ursache dieser Blutung.