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Obdachlose als Stadtführer

Jennifer Fraczek12. August 2013

Sightseeing ohne Museumsinsel und Brandenburger Tor: Bei der Tour von "Querstadtein" können Berlinbesucher die Hauptstadt aus einer ganz besonderen Perspektive entdecken: aus der Sicht von Obdachlosen.

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Ein Obdachloser liegt auf einer Wiese in einem Berliner Park (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

Verkehrsrauschen, Hupen, das Rattern der U-Bahn - es ist viel Betrieb am Nollendorfplatz. Er ist ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt und geschichtsträchtig. Bei einer normalen Stadtführung würde man wohl erfahren, dass der Nollendorfplatz von dem Landschaftsarchitekten Peter Josef Lenné gestaltet und nach dem Ort einer Schlacht benannt wurde.

Bei der Stadtführung von Carsten Voss spielt das keine Rolle. Die "Sehenswürdigkeiten", die er zeigt, sind Parkbänke, Pfandflaschen-Automaten, ein 24-Stunden-Supermarkt. Voss beschreibt die Stadt aus der Perspektive von Obdachlosen. Er hat selbst eine Zeit lang auf der Straße gelebt, ist jetzt aber dabei, wieder zurück ins normale Leben zu finden.

Berührungsängste abbauen

Bis zu 4000 Obdachlose gibt es laut Schätzungen in Berlin. Einigen sieht man direkt an, dass sie auf der Straße leben, vielen anderen aber nicht. Denn diese Obdachlosen entsprechen überhaupt nicht dem Klischee des heruntergekommenen Penners. Den meisten Bürgern und Touristen fallen sie nicht auf, oder sie ignorieren sie.

Ein Grund für die beiden Berlinerinnen Sally Ollech und Katharina Kühn das Projekt "Querstadtein" ins Leben zu rufen und ähnlich wie in Kopenhagen und London Stadtrundgänge mit dem Thema Obdachlosigkeit anzubieten. Berlin einmal aus Sicht von Menschen sehen, die auf der Straße leben: Das soll helfen, Vorurteile und Berührungsängste abzubauen.

Stadtführer Carsten Voss auf dem Viktoria-Luise-Platz in Berlin ( Foto: Jennifer Fraczek DW)
Stadtführer Carsten Voss (M.): Vom Manager zum ObdachlosenBild: DW/J.Fraczek

Carsten Voss, der Stadtführer, hat die Tour maßgeblich entwickelt. Sie führt größtenteils durch seinen Kiez Schöneberg, der wenig trendig, aber tolerant ist. Hier halten sich viele Obdachlose auf. Voss gehört nicht mehr zu ihnen. Aber dass er dazugehörte, ist nicht so lange her.

Nach Burn-out auf der Straße

Während der Tour erzählt der 54-Jährige seine Geschichte: Er war Manager in einer Mode-Event-Firma in Berlin, bis der Stress zu viel wurde. "Ein klassischer Burn-out", sagt er, und dass er danach viel falsch gemacht habe. Er habe sich zurückgezogen, "ich wollte nichts mehr hören, nichts mehr sehen, habe auf nichts mehr reagiert".

Er kam in die Psychiatrie, sein Anspruch auf Arbeitslosengeld endete, Sozialhilfe wollte er nicht. Das Geld ging aus, er landete auf der Straße. Das war vor bald zwei Jahren. Mittlerweile hat er wieder eine Wohnung, arbeitet ehrenamtlich in einer Wohnungslosen-Tagesstätte. In Kürze fängt er eine Weiterbildung an. Das Thema: Fundraising für soziale Zwecke.

Kein Elendstourismus

Einige der Stationen seiner Stadtführung stehen auch in Reiseführern: Der Winterfeldt-Platz, der Viktoria-Luise-Platz, der Bahnhof Zoo, der Breitscheidplatz, auf dem die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche steht. Sie bekommen aber beim Rundgang von Carsten Voss eine andere Bedeutung als bei anderen Sightseeingtouren. Am Bahnhof Zoo etwa führt er die Berlinbesucher zum Ullrich-Supermarkt, der die ganze Woche geöffnet hat. Denn vor dessen Flaschen-Rückgabe-Automaten bildet sich insbesondere am Wochenende immer wieder eine lange Schlange. Um dafür Pfandgeld zu bekommen, geben hier viele Obdachlose Leergut ab, das andere weggeworfen haben. Auf dem Breitscheidplatz lenkt Stadtführer Voss die Aufmerksamkeit der Touristen auf die Einkaufszentren, die Obdachlosen vor allem nachts und im Winter als Zuflucht dienen.

Die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche (Foto: Getty Images)
Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche auf dem Breitscheidplatz: Touristenziel und ObdachlosentreffpunktBild: Getty Images

Wichtige Anlaufstellen für Obdachlose sind auch die Wohnungslosen-Tagesstätten, kurz Wotas. Dort gibt es Aufenthaltsräume, Essen, Duschen, Waschmaschinen, Telefon, Internet, Zeitungen, Bücher und Schließfächer. Außerdem können sich Obdach- und Wohnungslose bei Problemen mit Ämtern oder Ähnlichem beraten lassen.

Von den Wotas erzählt Stadtführer Voss nur - ein Abstecher zu den Tagesstätten steht bei Querstadtein nicht auf dem Programm. Die Tour soll kein Elends-Sightseeing sein.

Berlin ist "in" bei Obdachlosen

Das soziale Netz für Obdachlose sei in Berlin insgesamt sehr gut, sagt Voss. Das sei ein Grund, weshalb viele aus anderen Bundesländern hierher kämen. Außerdem gebe es "eine Grundstimmung in der Stadt, die gegenüber Obdachlosen positiv ist, nach dem Motto: 'Jeder soll nach seiner Façon selig werden'". Das zeichne die Berliner aus, ohne dass das sozialromantisch klingen solle.

Am Ende seiner Führung greift Voss die Intention der Querstadtein-Gründerinnen auf: Berührungsängste abbauen. Nachdem die Teilnehmer nun einiges mehr wissen darüber, wie Menschen obdachlos werden können und wie deren Alltag aussieht, stellt sich die Frage: Wie soll man mit ihnen umgehen? "Die Leute angucken, nicht weggucken", sagt Voss. "Wenn mich jemand angesehen hat, hat mir das schon geholfen. Dass man nicht nur kurz wahrgenommen und dann einfach wieder aus dem Blickfeld weggedrückt wird." Achtsamkeit fordert Carsten Voss: "Das ist ein altmodischer Ausdruck, aber der passt ganz gut."