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Der ewige Kandidat

Alexander Kudascheff13. November 2002

Er hat ein politisches Erdbeben ausgelöst, kein Zweifel. Valery Giscard d'Estaing, ehemaliger französischer Staatspräsident, Europaparlamentarier und Präsident des Verfassungskonvents der Europäischen Union.

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Schneidend scharf hat er erklärt: die Türkei gehöre nicht in die EU. Und eine EU mit der Türkei sei keine Europäische Union mehr. Das war mehr als eine Provokation, das war ein gezielter Angriff auf die stille, heimliche Übereinstimmung der Staats- und Regierungschefs und der europäischen Kommission. Und so lautete die Antwort denn auch ebenso unverblümt: es bleibt alles beim alten.

Die Türkei sein ein Beitrittskandidat, auch wenn sie noch nicht ganz so weit sei, dass man mit ihr Gespräche führen könne. Und dann wurde der Stand rekapituliert: demnächst, so heißt es in Brüssel, werde man einen Termin festlegen, auf dem dann der Termin genannt werde, an dem Beitrittsverhandlungen mit Ankara beginnen könnten.

Minenspürhund

Im Diplomatenjargon ist das die Rendezvous-Theorie, oder einfach gesagt: man will sich noch nicht festlegen, aber der Tag rückt näher, an dem man sich festlegt - und die EU dazu. Und dieser Tag ist nah - ganz unabhängig vom Erfolg der konservativ-gemäßigt-islamischen Kräfte von Erdogan in der Türkei bei den Wahlen im Oktober.

Warum also ist Giscard vorgeprescht? Was hat ihn getrieben? Was bezweckt er? Spricht der doch im Alltag eher ohnmächtige Expräsident für einen ganz anderen - z.B. für den in neuer Macht erstarkten Chirac? Ist er als Minenhund unterwegs? Soll das Erdbeben die Stimmung und die Lage testen? All das ist möglich. Denn hier in Brüssel kennt man die Stimmung durchaus. Der Aufnahme von Verhandlungen, gar dem Beitritt der Türkei steht man skeptisch, zurückhaltend gegenüber.

EU = Christenclub?

Man weiß zwar nicht wie man von den Versprechen herunterkommt, die man 1999 in Helsinki gemacht hat. Aber so mancher sehnt sich nach den Beschlüssen des Gipfels von Luxemburg 1997 - als ein Helmut Kohl noch mehr oder weniger eindeutig dekretierte, die EU sei ein Christenclub. Das glaubte man zwar schon damals nicht, schließlich ist die Türkei säkularer als so mancher andere Staat.

Aber sagen wollte man damit nur eins: das Land passt nicht in die EU. Davon ist man inzwischen abgerückt. Und so mancher fragt sich warum? Ist es wirklich der Druck der USA, die zur Zeit ja schon die UNO und die NATO verändern? Soll nun auch die EU ihren Charakter auf amerikanischen Druck hin verändern? Das sind Fragen, die sich aufdrängen. Valery Giscard d'Estaing hat sie anscheinend auch gestellt. Jetzt bleibt nur eine Frage: antwortet man ernsthaft oder politisch korrekt? Die Debatte kann beginnen.