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Der Fall Ghosn und Japans Justizsystem

Felix Lill Tokio
6. März 2019

Die Freilassung von Carlos Ghosn, Ex-Chef bei Renault und Nissan, ist eine juristische Sensation. Sie nagt am japanischen System, wo Angeklagte fast immer auch schon Verurteilte sind. Aus Tokio Felix Lill.

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Japan Freilassung von Carlos Ghosn
Bild: Reuters/Kyodo

Es war ein Anblick, der vielen im Land nicht gefallen haben dürfte: Nachdem der Mann mit dem grimmigen Gesicht und der Wohlstandsplauze, versteckt hinter Mundschutz und Basecap, aus seiner Zelle über die Gänge des Sicherheitstrakts gegangen war, stand er in der frischen, freien Luft von Tokio. Reportern gegenüber versichert er immerzu seine Unschuld, alles sei eine Verleumdungskampagne. Er, Carlos Ghosn, sei kein Steuerhinterzieher.

Für den ehemaligen Chef der Autobauer Renault und Nissan, sind die 108 Tage, die er in Haft verbracht hat, ein Skandal. Das wolle er nun in einem fairen Prozess beweisen. Für die Staatsanwaltschaft dagegen ist Ghosns Freilassung gegen umgerechnet acht Millionen Euro ein Riesenproblem. Es bestehe Fluchtgefahr. So oder so: Ein großes Ding ist die Freilassung des Star-Managers allemal. Und sie könnte Folgen haben, die weit über diesen konkreten Fall hinaus reichen.

Frankriech Nizza Renault-Nissan Boss Ghosn und seine Frau Carole Ghosn
Ein Bild aus besseren Zeiten: Carlos Ghosn mit Ehefrau im Mai 2018 in CannesBild: picture-alliance/ZUMA Wire/F. Injimbert

Japans Umgang mit einstigen Helden

Die Causa Ghosn dokumentiert nicht nur, wie harsch in Japan einstige Helden in Ungnade fallen können, sondern womöglich auch, wie die Justiz hieran großen Anteil hat. Als Ghosn im November mit Verdacht auf Veruntreuung und Steuerhinterziehung von 38,8 Millionen Euro festgenommen wurde, dauerte es nur einen Tag, bis aus einem Business-Popstar, durch den eigene Mangas inspiriert worden waren, ein vorverurteilter Krimineller wurde. Die Nachricht über seine Festnahme trat eine Welle von Berichten über dessen obszönen Reichtum los, von Villen in Paris, Rio, Amsterdam und anderswo.

Schnell wurden in der Debatte Gier und Gesetzesbruch in einem Atemzug genannt. Immerhin war der gebürtige Brasilianer libanesischer Eltern schon länger für seine hohen Saläre aufgefallen. Für seine Posten bei Renault, Nissan und ab 2016 auch Mitsubishi kassierte er zuletzt knapp 20 Millionen Euro im Jahr. Selbst in der fürstlich bezahlten Klasse der Konzernbosse ist das viel, in Japan stellte es zudem einen Rekord auf. Ghosn verdiente etwa fünfmal so viel wie Akio Toyoda, Chef des weltweit größten Autobauers Toyota. Ghosn, der Nissan ab der Jahrtausendwende als Sparfuchs saniert hatte und dafür im Land gefeiert wurde, war fortan als Gierschlund verschrien. Tatsächlich ist schwer von der Hand zu weisen, dass Ghosn ein nimmersatter Charakter ist.

Amnesty kritisiert Haftbedingungen in Japan

Nur war mit dessen Verhaftung auch schon sein rechtliches Vergehen quasi besiegelt. Schließlich ist in Japan eine Verhaftung fast gleichbedeutend mit einer Verurteilung: In rund 99 Prozent der Fälle kommt es zu einem Schuldspruch, häufig auf ein Geständnis hin. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International kritisieren schon lange, dass Geständnisse durch harte Haftbedingungen, teilweise mit Folter und ohne Zugang zu einem Anwalt häufig erzwungen würden. So werden Festgenommene auch fast nie auf Kaution freigelassen, sofern sie sich nicht zuvor zu einer Schuld bekannt haben.

In Ghosns Fall ist dies nun anders. Dem dritten Gesuch auf Freilassung gab das zuständige Tokioter Gericht statt, weil doch keine Fluchtgefahr bestehe. Nun will sein Anwaltsteam in die Offensive gehen und könnte auch das Justizsystem anprangern. Dies wird zuletzt wieder verstärkt kritisiert. Stephen Givens etwa, Juraprofessor bei der Sophia Universität in Tokio, schrieb in einem Leitartikel für das renommierte Wirtschaftsblatt "Nihon Keizai Shimbun", dass die Vorwürfe von Ghosn nach japanischem Recht keine Gefängnisstrafe rechtfertigen würden. Vermehrt ist zu hören, dass das Management von Nissan, das sich gegen eine von Ghosn geplante Fusion mit Renault sträubte, ihren Chef loswerden wollte und ihn deshalb auslieferte.

Tokyo Zeichnung Carlos Ghosn bei Anhörung vor Gericht
Gerichtszeichnung einer Anhörung von Ghosn im Januar 2019 Bild: picture-alliance/Kyodo/N. Katsuyama

Ghosn kein Einzelfall

In den Augen der Staatsanwaltschaft wiederum könnte das wahre Vergehen Ghosns nicht Raub, sondern Gier gewesen sein. Dies glaubt jedenfalls Tomohiro Ishikawa, der aus Erfahrung sprechen will. Als Parlamentsabgeordneter der linksliberalen Demokratischen Partei wurde Ishikawa im Jahr 2010 für die Annahme von Bestechungsgeldern angeklagt. Nach drei Wochen in Haft und täglich zwölf Stunden Verhörs ohne Zugang zu einem Anwalt machte er schließlich ein abgeschwächtes Geständnis, wurde zu zwei Jahren verurteilt. "Sie zwingen einen zu dem Geständnis, das ihren eigenen Vorstellungen entspricht", sagte Ishikawa in einem Gespräch mit dem britischen Sender BBC über die japanischen Verhörtechniken. Und: "Sie haben nicht aufgeschrieben, was ich sagte."

Falls Carlos Ghosn in Kürze Ähnliches berichtet wie Tomohiro Ishikawa, könnte die gesamte japanische Rechtsprechung schwer in Verruf geraten. Dann wiederum wäre auch das Ansehen der Staatsanwaltschaft, deren Impulsen die Justiz so häufig nachgibt, arg beschädigt. Laut Tomohiro Ishikawa sehen sich die Staatsanwälte heute, in Zeiten steigender ökonomischer Ungleichheit in Japan, zudem politisch motiviert. "Sie wollen einen Namen haben als Institution, die die Reichen zur Strecke bringt."

Lässt sich auch dieser Vorwurf erhärten, befindet sich Japan in einer juristischen Krise: Zu einem Rechtssystem, das Geständnisse erzwingen will, käme eine Staatsanwaltschaft, die ihr Mandat überschreitet. Besonders blamabel wäre so eine Offenbarung im Fall Ghosn. Schließlich ist so viel bekannt: Falls es keinen Rechtsbruch gab, hat Ghosn zumindest Schlupflöcher genutzt, um auf sein exorbitantes Einkommen möglichst wenig Steuern zu zahlen.