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Der Fall Verheugen

Alexander Kudascheff17. Oktober 2006

Von einer harten Attacke des Vizepräsidenten gegen den europäischen Beamtenapparat und den neuen Dimensionen einer Liebe im Gerüchteparadies Brüssel.

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So mancher hat es angeblich seit langem gewußt. So mancher hat das Geheimnis weiter geraunt. So mancher hat Andeutungen gemacht. Brüssel - das war in den letzten Monaten immer auch ein radio trottoir. Doch egal ob es nun stimmte oder nicht, niemand hielt es für nötig, darüber zu berichten. Es galt der aus alten Bonner Regierungszeiten bekannte Satz: Über Privates wird vielleicht getratscht, berichtet wird nicht. Es geht nämlich niemanden etwas an.

Doch dann kam es plötzlich knüppeldick. Erst lederte Günter Verheugen, Vizepräsident der EU-Kommission und zuständig für Industriepolitik, gegen den europäischen Beamtenapparat. Da er schon bald sieben Jahre im Amt ist, konnte die Attacke nur einen Grund haben: Ihm war der Kragen geplatzt, es reichte ihm.

Die Arroganz und die Machtfülle der Generaldirektoren in der Kommission - und die gesamte Bürokratie ist ein Spiegelbild französischer Verwaltungen - ist ja sprichwörtlich. Über ihre weltfremde, politikferne Bereitschaft alle zu belehren haben schon so manche Kommissare und ganz bestimmt oft der Rat und das europäische Parlament geklagt. Und wohl meistens zu Recht - obwohl fast alle zugeben müssen, dass die Brüsseler Bürokratie durchaus elitär, aber effizient ist. Doch - leider auch - oft weit weg von den Problemen der Menschen.

Soweit so gut - Verheugen, so dachte man, mußte mal seinen Frust los werden. Und hat kräftig ausgeteilt. Doch bevor die Wirkung seiner Interview-Worte überhaupt explodieren konnte, kam der sanfte, der intrigante Gegenangriff - woher auch immer. Jedenfalls träufelte das Gift des Gerüchts als Tatsache in die Welt, Verheugen habe ein Verhältnis mit seiner Büroleiterin und er habe sie an allen vorbei befördert.

Nun kann man nicht beiseite lassen, dass Büroleiter von Kommissaren sowohl die engsten Vertrauten sind als auch immer von außen kommen - und damit per se in Opposition zu den Beamten stehen. Viele haben sich übergangen gefühlt, obwohl gerade im Kabinett die Mehrzahl der Mitarbeiter seit Bestehen der Kommission "parachutistes" sind - also von außen hereingeholte Fallschirmspringer. Aber auf ein paar wenige Vertraute (die darüberhinaus noch aus verschiedenen Ländern sein müssen) hat auch ein Kommissar Anspruch.

Aber es war schon auffällig: Kaum hatte Günter Verheugen Petra Erler befördert, wurde das Wispern und Raunen lauter, durchdrang die sonst dicken Mauern der Kommission. War also das Interview Verheugens eine Vorneverteidigung oder war das Bekanntwerden der angeblichen Affäre (für die sonst niemand interessiert hat) die Defensive des Apparats? Das ist noch ungeklärt - es beschädigt aber zuerst einmal den deutschen Kommissar, der auf einer sicher ungeliebten Position in der Kommission sitzt - nach dem Glanz als Erweiterungskommissar. Doch selbst hier wird Günter Verheugen jetzt der eine oder andere Dreck nachgeschmissen. Vor allem im Falle Zypern und im Falle Türkei. Doch das sind ganz andere Kapitel.

Interessant sind noch ganz andere Aspekte. Die Deutschen führen demnächst die Geschäfte der EU - und brauchen natürlich einen engen Verbündeten in der Kommission. Kann das Verheugen noch sein - unabhängig davon, dass die Kommission natürlich dem europäischen Gemeinwohl verpflichtet ist? Sucht man etwa einen Nachfolger für ihn - und will die Neuordnung der Kommission nach dem 1. Januar 2007 (wenn für die Rumänen und Bulgaren neue portfeuilles gefunden werden müssen) für ein revirement nutzen? Und was hat es mit den seit langem in Brüssel laufenden Gerüchten zu tun, Solana - Europas Chefdiplomat - sei amtsmüde? Und Verheugen schiele auf diesen Posten - schließlich sei er ja geborener Außenpolitiker! Oder geht es um noch mehr - schließlich wird auch über die Ablösung der angeblich glücklosen Benita Ferrero-Waldner spekuliert - im Tausch gegen Wolfgang Schüssel oder Ursula Plassnik?

Die Affäre hat also mehr als einen üblen Bei- und Nachgeschmack. Und bei den ganzen Gerüchten muß man sich fragen: cui bono? Die Antwort kommt sicher demnächst aus der Brüsseler Gerüchteküche.