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"Der kirgisische Sumpf"

18. Juni 2010

Warum schicken weder Amerikaner noch Russen Friedenstruppen nach Zentralasien? Welche geostrategischen Überlegungen stecken dahinter? Die Fragen beschäftigen am Freitag (18.06.) die Kommentatoren der deutschen Zeitungen.

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Bild: picture-alliance/dpa

Frankfurter Allgemeine Zeitung: "Gefährliches Spiel am Talas-Fluss":

"Das scheinbar so entlegene steppenhafte, wüstenartige und auch gebirgige Zentralasien hat nichts von seiner geostrategischen Bedeutung verloren. Seine Lage zwischen China, Russland, dem unruhigen islamischen Süden und der Kaukasus-Region sind ebenso bestimmend wie die riesigen Ressourcen, über die vor allem Kasachstan, Turkmenistan und auch Usbekistan verfügen. (...) Man muss nicht immer die triviale, aus dem 19. Jahrhundert stammende Formel von dem „Great Game“ bemühen, um die Brisanz der Lage zu erkennen. Wird Kirgistan des Aufruhrs alleine Herr werden können? Die Interimspräsidentin Rosa Otunbajewa hat schon mehrfach um Hilfe ersucht. (...) Moskau wäre gewiss in der Lage und auch willens, den Unruhen ein Ende zu bereiten. Und der aus dem KGB kommende Ministerpräsident Putin wüsste auch, wie man ein Land darüber hinaus ruhigstellt und ruhig hält. Doch es bedeutete auch, Kirgistan (nicht nur in den Augen Moskaus) endgültig zum gescheiterten Staat zu erklären - und zu einem vielleicht verhängnisvollen Präjudiz für die Staaten in seiner Nachbarschaft zu machen.


Süddeutsche Zeitung: "Der kirgisische Sumpf"

Die nahe- und etwas fernerliegenden Helferkandidaten haben (...) größere, längerfristige, geopolitische Ziele. Washington hat undurchsichtige Treibstoff-Geschäfte mit dem Vorgängerregime gemacht und die nun regierende Opposition ignoriert - alles, um seinen Luftwaffenstützpunkt in Manas und den Truppentransport nach Kabul nicht zu gefährden. In realistischer Einschätzung der örtlichen Akzeptanz hat Washington über die Entsendung von Friedenstruppen nicht einmal nachgedacht. Russland hingegen ist zwar Bischkeks Wunschpartner für ein militärisches Eingreifen, beansprucht seit Jahren einen Rang als Ordnungsmacht im postsowjetischen Raum, will es sich aber mit den anderen Machthabern in der Region nicht verscherzen. Ohne die Zustimmung der Nachbarländer, vor allem Usbekistans und Kasachstans, und ohne überzeugendes Mandat dürfte Russland sich kaum überwinden, Truppen in den kirgisischen Sumpf zu schicken."


Die Welt: "Macht und Mordlust"

"Was in der Stadt Osch in Kirgistan an Gräueln vor sich geht, ist von außen nur zu ahnen. Es zeigt sich, dass die Ordnung, die das Sowjetreich hinterließ, an vielen Stellen nicht haltbarer ist als viele Grenzen, die 1919 markiert wurden. Welchen Anteil kriminelle Banden, welchen kirgisische Truppen haben, ob Flucht und Rache des gestürzten Präsidenten Kurmanbek Bakijew hineinwirken - die Außenwelt rätselt. Westliche Dienste sind dort schlecht aufgestellt, obwohl Afghanistan nahe ist und Gas- und Ölleitungen das Land durchqueren. Wer nach Vorgeschichte sucht, findet sie zu Zeiten der bolschewistischen Revolution. Aber das ist zwei Menschenalter her. (...) Heute geht es um Macht, Massenhass und Mord- und Raublust. Die Regierung in Bischkek ist rat- und hilflos."


Frankfurter Rundschau: "Falsches Spiel mit dem Nationalen"

"Wie viele Menschen in den vergangenen Tagen in Kirgistan tatsächlich ermordet oder verletzt wurden, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Fest steht nur: Es wird weitere Opfer geben. Die Ursachen für die Eskalationen in den zentralasiatischen Republiken sind einfach zu komplex. Wer sie aus der Welt schaffen will, braucht viel Zeit; er muss vor allem verstehen, worin die Gründe für die Auseinandersetzungen bestehen und woher sie stammen. Die Gewalt in Kirgistan ist das Erbe der Sowjetunion und ihrer willkürlichen Nationalitätenpolitik. Sie ist zugleich Mahnung, die Ordnungsidee "Nation" oder "Ethnie" zu überdenken.

Autorin: Esther Broders
Redaktion: Thomas Latschan

Anm. d. Red.: Die Schreibweise des Landesnamens variiert und ist den jeweiligen Zeitungen entnommen.