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Der Machtmensch gegen den Ideologen

Kersten Knipp29. Juli 2016

Der Bruch zwischen dem türkischen Staatspräsidenten Recep Erdogan und dem Prediger Fethullah Gülen hat viele Ursachen, politische ebenso wie ideologische. Der Politologe Caner Aver erläutert die Hintergründe.

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Bildkombo Recep Tayyip Erdogan und Fethullah Gülen
Bild: Links: picture-alliance/dpa/AP/Pool // Rechts: Reuters/Handout

DW: Herr Aver, der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan beschuldigt den ihm ehemals eng verbundenen Prediger Fethullah Gülen, mit seiner Bewegung hinter dem Putsch in der Türkei zu stehen. Dabei standen sich beide Männer früher nahe. Was bringt die beiden so sehr gegeneinander auf?

Caner Aver: Gülen ist ein Prediger, Imam und Gelehrter und folgt der Linie des Predigers Saidi Nursi, eines religiösen kurdischstämmigen Predigers aus den 1910er Jahren. Erdogan hingegen kommt aus der Milli-Görüs-Bewegung, die in den 1970er Jahren von dem islamisch-konservativen Politiker und ehemaligen türkischen Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan gegründet wurde. Sie strebt eine eher türkisch-islamische Synthese an und orientiert sich am politischen Islam.

Das heißt, wir haben mit Erdogan auf der einen Seite einen eher konservativ-pragmatischen, auf Macht ausgerichteten Politiker mit dem Islam als Referenzquelle. Und mit Gülen auf der anderen einen ideologisch motivierten islamischen Prediger. Zudem gründet Erdogan seine Machtbasis eher auf dem Territorium der Türkei, während Gülen die Türkei als Basis versteht, aber Anhänger weltweit hat.

Unterscheiden die beiden sich auch in ihrer Vorstellung von der Rolle der Türkei?

Ja. Während Erdogans ideologischer Heimat der Milli-Görüs-Bewegung ein konservativ-nationales neoosmanisches Weltbild zugrunde liegt, das ideologisch nicht mit der laizistischen Republik konform war, präsentiert sich Gülen als westlich orientierter Prediger, der einen mit westlichen Werten konformen liberalen Islam vertritt. Gülen begreift sich als Mittler zwischen dem westlichen und islamischen Kulturkreis. Erdogan hingegen knüpft an die alten Zeiten des Osmanischen Reiches an und strebt eine starke und große Türkei an. Diese will er auch mit Hilfe nationaler und religiöser Diskurse begründen.

Caner Aver (Foto: Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung)
Diplomgeograph Caner AverBild: Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung

Unterscheiden sich auch die Anhänger der beiden Männer? Wie setzt sich ihr jeweiliges Publikums zusammen?

Beide sind Charismatiker. Während die Anhänger Erdogans ihm als Politiker ganz wesentlich wegen dieser Eigenschaft zugetan sind, sind Gülens Anhänger vor allem ideologisch motiviert.

Gülen versammelt in seiner Bewegung ihm treu verbundene Anhänger. Über die Jahre ist seine Gemeinde gewachsen, nicht zuletzt wegen des karitativen Engagements der Bewegung. So bot er Kindern aus ärmeren Verhältnissen Bildungsmöglichkeiten. Diejenigen, die sie nutzten, stehen ihm nun treu zur Seite. Deshalb entstammen die meisten Gülen-Anhänger eher dem religiösen Bildungsmillieu. Erdogan hingegen hat in seinen ersten Amtsjahren neben dem religiös-konservativen auch ein liberales Publikum angesprochen, das für die Demokratisierung stand. Auch Erdogan hat die ärmere Bevölkerung unterstützt und dadurch seine Wählerschaft erweitert. Heute gehören religiös und national orientierte Türken zu seinen Wählern.

Gülen sagt, man solle eher Schulen bauen als Moscheen. Bei Erdogan ist es eher umgekehrt - er baut lieber Moscheen als Schulen. Allerdings hat Gülen ein eigenes Konzept: Er versucht die Wissenschaft in den islamischen Kontext zu integrieren. Er will die Religion also nicht modernisieren und an unsere Zeit anpassen. Stattdessen versucht er, die Wissenschaft durch den Koran zu begründen und diesen dadurch zu legitimieren. Bei Erdogan spielt Bildung eine geringere Rolle. Ihm geht es eher darum, die Massen zu mobilisieren, hinter sich zu einen und darüber seine Macht zu stärken.

Gibt es auch historische Gründe für den Bruch der beiden?

Wichtig sind ihre unterschiedlichen Positionen während der bisherigen Putsche in der Türkei. Während Gülen die Putschisten insbesondere in den 1980er Jahren unterstützte, waren Erdogan und seine Bewegung eher deren Opfer. Aufgrund ihrer ideologischen Ausrichtung sollten sie aus dem System ferngehalten werden. Gülen vertritt vordergründig eher eine liberale, westlich ausgerichtete Interpretation des Islam, während Erdogan eher eine osmanisch inspirierte Stärke demonstrieren will.

Zum ersten Mal sind die Differenzen während der Proteste rund um den Gezi-Park im Jahr 2013 deutlich geworden. Die brutale Niederschlagung der Proteste durch die Polizei, in deren Folge auch junge Menschen starben, wurde auch von der Gülen-Bewegung kritisiert. Experten gehen davon aus, dass es sich bei dieser Frage um den Bruch, auch um einen Machtkampf in der Türkei gehandelt hat: Es ging um die Aufteilung der Ressourcen innerhalb des Staates und die Besetzung von Spitzenpositionen. Zuvor hatten Gülen verbundene Richter und Staatsanwälte auf Grundlage frei erfundener Beweise kemalistische Militärs und hohe Beamte verhaftet und verurteilt.

In diesem Rahmen hat sich auch die derzeitige Lage zugespitzt: Während Gülen sich - seine eigene Bewegung ist ausgesprochen straff organisiert – vordergründig für Demokratie einsetzte, beschuldigt ihn die Regierung einer gegenteiligen Haltung: Sie wirft der Gülen-Bewegung vor, auch mit ausländischen Geheimdiensten gegen die Türkei zusammenzuarbeiten.

Wie sehen Sie nach dem Putsch und Erdogans Reaktion die langfristige Entwicklung der Türkei?

Die derzeitige Entwicklung wirft sehr viele Fragen hinsichtlich der Zukunft des Landes auf. Es gab vor einigen Tagen erste Anzeichen einer innenpolitischen Entspannung, denn die Oppositionsparteien fanden sich im Präsidentenamt zu einem Gespräch zusammen und äußerten dort auch durchaus versöhnliche Töne. Der Aufmarsch der kemalistischen Sozialdemokratisch-Republikanischen Partei (CHP) auf dem Taksim-Platz erstmals nach sieben Jahren sowie den von ihr vorgelegten Zehn-Punkte-Memorandum schien bereits anzudeuten, dass eine Versöhnungspolitik möglich wäre. Schließlich hatten Erdogans und die CHP einen gemeinsamen Feind, nämlich die Putschisten.

Die Zeit der Versöhnung scheint nun aber wieder vorbei zu sein.

Nicht ganz. Wir haben sehen müssen, dass Journalisten entlassen und knapp hundert Medienanstalten und Verlage geschlossen worden sind - und das, obwohl unter ihnen auch solche waren, die nichts mit der Gülen-Bewegung zu tun haben. Es scheint, als versuche Erdogan, die Gelegenheit zu nutzen, um alle unliebsamen Oppositionellen aus dem System zu entfernen und seine Macht weiter zu stärken. Diese Gefahr sehen wir durchaus, doch müssen wir auch abwarten, ob der Putsch mittelfristig zu einer innenpolitischen Entspannung führen wird.

Caner Aver ist Diplom-Geograph mit dem Schwerpunkt politische Geographie. Am Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung in Essen forscht er unter anderem zu Transnationalität und den Beziehungen zwischen der Türkei und der Europäischen Union.

Das Gespräch führte Kersten Knipp.