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Der Messias bin ich

Vanessa Fischer1. Juli 2002

Die aufwendigste und meist diskutierte Produktion beim neunten Festival "Theater der Welt" kam aus Brasilien. DW-WORLD sprach mit dem Regisseur der Gruppe "Teatro da Vertigem".

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Die Hure Babilonia in Apocalipse 1,11 von Antônio AraújoBild: Claudia Calabi

Köln-Ossendorf. Die Justizvollzugsanstalt. Gemeinsam mit dem Hauptdarsteller João werden wir auf eine infernale Reise geschickt. Wir kommen aus dem armen Nordosten Brasiliens, sind ahnungslos und auf der Suche nach dem Ort, an dem es keine Sorgen und existenziellen Nöte geben soll: "Neues Jerusalem", dorthin folgen wir ihm. Dicht gedrängt stehen die Zuschauer zum Sicherheitsscheck an. Dann schließen die massiven Stahltüren hinter uns.

Von martialischen Wächtern werden wir durch spärlich beleuchtete, katakombenartige Versorgungskeller gepeitscht. "Geht das vielleicht ein bisschen schneller!" Vorbei an grellen Marienbildern, wie sie in Brasilien überall zu finden sind, bis wir den Nachtclub "Neues Jerusalem" erreichen und zu Gästen eines billigen, schummrigen Bordells werden, in den sich keiner zufällig verirrt.

Architektur der Ohnmacht

Die Wahl des Spielortes bleibt keine Effekthascherei. Regisseur Antonio Araújo gelingt die Einbettung der Gefängnisarchitektur in den dramaturgischen Kontext auf eine Weise, der sich der Zuschauer nicht entziehen kann. "Wir wollten den Zuschauer an jenen Ort führen, der den Inbegriff von Bestrafung, Ohnmacht und Gewalt darstellt", so der Regisseur.

Der Titel des Stücks - Apocalipse 1,11 - verweist auf den Vers 1,11 der Offenbarung des Johannes und auf die 111 Gefangenen, die 1992 bei einer Revolte im Gefängnis von Carandiru getötet wurden. "Dieses Massaker war für uns, die wir in São Paulo leben, eines der apokalyptischsten Momente."

Abrechung mit der brasilianischen Realität

In "Neues Jerusalem" wird die brasilianische Gesellschaft in ein Bordell versetzt. Babilonia, die Königin der Huren und ein Transvestiten-Teufel führen hier Regie. Die Statisten in der abendlichen Show: Eine Spartikerin, die die brasilianische Verfassung stammelt, sambatänzelnde Schwarze, die auf demütigende Weise ihre Potenz zu Schau stellen müssen, Exorzisten, die das Volk verdummen.

Eine groteske Farce, die zuweilen der Fantasie des Zuschauers wenig Spielraum lässt, in ihrer konzeptionellen Vielschichtigkeit aber besticht. Mit viel Selbstironie werden hier die nationale Selbstverliebtheit, die Verlogenheit der multikulturellen Gesellschaft, die Willkür der Exekutiven und das Geschäft mit der Religiösität entlarvt.

Radikalität als Konzept

Radikalität ist Teil des Konzeptes der Gruppe Teatro da Vertigem ("Theater des Schwindels"), die alle Texte und Inszenierungen im Kollektiv erarbeitet. Auf Verständnis sind sie damit nicht immer gestoßen. Araújo setzt auf experimentelles, plastisches Theater zum Mit-Leiden. Theaterspiel aus allen Himmelsrichtungen, ein Mosaik aus grellen Bildern, akustischen Effekten und Musik - Theater als Erlebnis.

Den Zuschauer aus seiner Lethargie aufzurütteln, ist die Ambition der freien Theatergruppe. Zu sehr haben sich die Brasilianer an diese grotesken Zustände, an Gewalt, Angst und Mißtrauen gewöhnt, erklärt Araújo. "Wir nehmen das als gegeben hin und hoffen immer auf den Erlöser, sei es ein Heiliger oder ein Politiker, der alles richten wird. In der brasilianische Kultur gibt es ein starkes messianisches Moment, das in die Passivität führt und das wir mit unserer Arbeit versuchen zu demaskieren".

Empathie erzeugen und sensibilisieren

Trotz des kulturellen Kontextes, waren die bisherigen Reaktionen des deutschen Publikums bemerkenswert positiv. "Viele, die das Stück gesehen haben, auch die Gefangenen der JVA, sagten mir, sie seien sehr berührt und sensibilisiert gewesen und hätten noch lange über die Inszenierung nachgedacht. Theater hat eben immer einen starken lokalen Bezug. So gesehen ist es ein viel komplizierteres "Exportgut" als die Musik oder das Kino. Aber ich bin froh, dass es offensichtlich zu einem Dialog mit dem hiesigen Publikum gekommen ist", sagt der 36-Jährige zufrieden.

Die Gruppe entlässt den Zuschauer nicht in die Hoffnungslosigkeit. Nach der Szene des Jüngsten Gerichts in der Kapelle des Gefängnisses verliert João den Glauben an die Rettung durch den Messias. Er lässt Jesus gehen und weiß nun, dass das "Neue Jerusalem" in seinen Händen liegt. In dem mangelnden Drang zur Eigenverantwortung sieht Araújo das größte Problem in der brasilianischen Demokratie. Aber Resignation passt nicht zu ihm: "Hätte ich keine Zuversicht, wäre ich schon längst ausgewandert."