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Der Mythos der schutzbedürftigen Russen

Roman Goncharenko15. September 2016

Die erneut ausgerufene Waffenruhe in der Ostukraine scheint brüchig. Moskau könnte wieder behaupten, ethnische Russen seien dort in Gefahr. Stimmt das? Roman Goncharenko hat in Charkiw mit einigen von ihnen gesprochen.

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Wandmalerei mit dem sowjetischen Kosmonauten Juri Gagarin erschien in Charkiw noch vor der Maidan-Protesten (Copyricht: DW/R. Goncharenko)
Die Wandmalerei mit dem sowjetischen Kosmonauten Juri Gagarin war in Charkiw noch vor der Maidan-Protesten von 2014 zu sehenBild: DW/R. Goncharenko

Der gigantische Platz der Freiheit ist mit blau-gelben ukrainischen Fahnen geschmückt. Ganz vorne, wo früher die Lenin-Statue thronte, schaufelt ein Bagger Platz für neue Blumen und Bäume. Aus den Lautsprechern an einem Hotel ertönt auf Russisch Werbung für Radio Chanson, einen Sender mit Musik aus der sogenannten "Kriminellen-Folklore". Das ist Charkiw, die zweitgrößte Stadt der Ukraine.

Vorwürfe aus Moskau

Vor zweieinhalb Jahren hätte Charkiw fast das Schicksal der Separatisten-Hochburgen in der Ostukraine, Donezk und Luhansk, geteilt. Die Stadt liegt nur rund 40 Kilometer von der Grenze zu Russland entfernt und ist stark russisch geprägt. Die meisten der 1,5 Millionen Einwohner sprechen im Alltag Russisch. Nach dem Aufstand in Kiew misstrauten viele von ihnen den neuen Machthabern. Im Frühjahr 2014 gab es hier pro-russische Demos. Kräftige junge Männer besetzten das Gebäude des Gebietsrats und hissten auf dem Dach die russische Flagge. Doch die Polizei befreite das Gebäude.

Damals hörte man von russischen Politikern und Medien den Vorwurf, russischsprachige Ukrainer seien in Gefahr. Solche Behauptungen gibt es bis heute. "Russen und die russische Kultur werden zum Objekt von Unterdrückung und Verfolgung", sagte im Juni Valentina Matwijenko, Vorsitzende des Föderationsrates in Russland. Das gelte für die Kultur und Bildung in einigen Ländern, die früher zur Sowjetunion gehörten - darunter in der Ukraine.

Im ukrainischen Charkiw kann man russische Zeitungen und Zeitschriften frei kaufen (Copyricht: DW/R. Goncharenko)
Im ukrainischen Charkiw kann man russische Zeitungen und Zeitschriften kaufenBild: DW/R. Goncharenko

Sanfte "Ukrainisierung"

Alexander Kisilow ist jemand, der aus der Sicht der russischen Politik Schutz braucht. Der Soziologie-Professor an der Charkiwer Nationalen Karasin-Universität sitzt in seinem Büro und schaut auf die Baustelle, wo früher das Lenin-Denkmal stand. Pro-ukrainische Aktivisten hatten es 2014 niedergerissen. "Ich habe mit meiner Kamera verschiedene Stufen der Demontage dokumentiert", sagt Kisilow. In seiner Stimme ist keine Nostalgie zu spüren, sondern eher die Neugier eines Forschers, der aus dem eigenen Fenster historische Ereignisse beobachten konnte.

Kisilow ist ethnischer Russe, geboren im benachbarten russischen Gebiet Belgorod. Wie hunderttausende Russen kam er einst hierher, um an der Universität zu studieren. Charkiw galt zu Sowjetzeiten als Zentrum der Bildung und Industrie. "Es gibt hier heute keine Verfolgung - weder der ethnischen Russen noch deren Kultur", sagt Kisilow. "Man wird von niemandem gezwungen, Ukrainisch zu sprechen."

Ukrainisch ist die einzige Staatssprache im Land und an den Hochschulen muss auf Ukrainisch unterrichtet werden. So weit die Theorie. Doch es sei nicht selten, dass Studenten und Dozenten "eine gemeinsame Sprache finden, die ihnen passt", sagt Kisilow lächelnd - und macht deutlich, dass dies die russische Sprache sei.

Weniger Russisch an Schulen

Die meisten Schulen in Charkiw sind ukrainischsprachig - und ihre Zahl steigt. Es gibt aber auch russischsprachige Schulen, die jedoch den Kontakt zu Medien offenbar meiden. Einige dieser Schulen ließen DW-Anfragen unbeantwortet. Eine Russisch-Lehrerin sagte ein bereits vereinbartes Interview nach Rücksprache mit dem Schulleiter ab. Eine andere stimmte nur einem anonymen Gespräch zu.

Ethnischer Russe Alexander Kisilow braucht keinen Schutz von Moskauer Politiker (Copyricht: DW/R. Goncharenko)
Der ethnische Russe Alexander Kisilow fühlt sich nicht benachteiligtBild: DW/R. Goncharenko

An ihrer Schule werde auf Russisch unterrichtet, erzählt diese Lehrerin. Doch pro Woche gebe es nur eine Stunde russische Sprache und zwei Stunden russische Literatur - halb so viel wie zur Zeit der Sowjetunion. Der Lehrplan für russische Literatur sei gekürzt worden. "Herausgenommen wurden die Werke von Pasternak und Brodsky", sagt die Lehrerin. Das führe letztlich dazu, dass Schüler, die privat Russisch sprechen, weniger Chancen hätten, diese Sprache richtig zu erlernen: "Ja, ich als Lehrerin habe das Gefühl, dass die russische Kultur in Gefahr ist, weil man den Unterricht nicht vertiefen kann."

In den letzten zwei Jahren sei ihre Arbeit auch aus politischen Gründen schwieriger geworden. "Bevor ich mich zu etwas äußere in der Schule, denke ich zweimal nach", sagt die Frau. Ein Kollege habe sie als "Separatistin" beschimpft. Dabei könne sie sowohl Russisch als auch Ukrainisch und habe damit keine Probleme.

Probleme älterer Russen

Das beste Beispiel für das Leben im zweisprachigen Charkiw sind die Zeitungskioske oder das Opernhaus, an dessen Außenwänden Premieren in beiden Sprachen angekündigt werden. Insgesamt dominiert Russisch in Charkiw, doch Ukrainisch hat stark aufgeholt. Aushänge sind mal auf Ukrainisch, mal auf Russisch bedruckt, Waren meist nur auf Ukrainisch. Auch im lokalen Fernsehen hört man mehr Ukrainisch als noch vor zehn bis 15 Jahren. "Ein Großteil der ukrainischen Bevölkerung hat sich faktisch an die neue ukrainische Realität angepasst", sagt der Soziologe Kisilow.

Probleme hätten meist die älteren Menschen in Charkiw, die zu Sowjetzeiten aus Russland gekommen seien. Diese kleine Gruppe von Menschen "fühlt sich in der neuen Ukraine nicht wohl". Aber auch der wirtschaftliche Niedergang des Landes sei ein Grund dafür. "Diese Menschen fühlen sich Russland näher", sagt Kisilow. Rund zehn Prozent der Charkiwer seien Sowjetnostalgiker.

Russisch mündlich, Ukrainisch schriftlich

Während auf den Straßen meist Russisch gesprochen wird, hat sich die ukrainische Sprache in Büros und Behörden etabliert. Das merkt man sofort in einem städtischen Bürgerbüro. Hier ist alles auf Ukrainisch: Vordrucke, Informationen und Durchsagen.

Wenn jemand nur Russisch und kein Ukrainisch beherrsche, sei das aber kein Problem, versichert die Leiterin des Büros, Iryna Synyzka. Ob ein neuer Pass oder eine Meldebescheinigung - die Anträge müsse man nicht selbst auszufüllen, alles erledige das Personal: direkt auf Ukrainisch. "Wir leben doch in der Ukraine", sagt Synyzka. Wegen des Gebrauchs der ukrainischen Sprache sei sie noch nie kritisiert worden, eher im Gegenteil. Einmal habe sich ein junger Mann darüber beschwert, dass eine Mitarbeiterin ihn auf Russisch angesprochen habe.