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Gerettete Musik

Aya Bach24. Januar 2013

Klimakatastrophe im Rundfunkarchiv: Kameruns Musiktradition ist auf Tonbändern gespeichert, die den tropischen Bedingungen nicht mehr standhalten. Rettung kommt durch einen Deutschen.

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Verrottetes Tonband (Copyright: Joachim Oelsner)
Digitalisierungsprojekt von Musik-Tonbändern in Kamerun von Joachim OelsnerBild: Joachim Oelsner

Wer schon mal ein 50 Jahre altes Tonband in der Hand hatte, weiß, was Vergänglichkeit bedeutet. Jedenfalls, wenn es ein halbes Jahrhundert in den Tropen zugebracht hat. Viele Bänder fallen angekräuselt und halb zerfleddert aus der Hülle, einfach abspielen lässt sich da nichts mehr. Solchen Todeskandidaten rückt Joachim Oelsner mit Pinsel und Wattestäbchen, mit Atemschutzmaske und sehr viel Liebe zu Leibe. Sobald er sie gerettet hat, stellt er digitale Kopien her.

Denn Oelsners Herz schlägt für die Musik seiner Wahlheimat Kamerun. Allein seine privaten Musik-Schätze füllen nicht nur ganze Wände, sondern auch ein gefühltes Drittel des Bodens. Er besitzt eine Kassettensammlung, wie sie sonst nirgendwo im Land existiert, und hat riesige Konvolute an Vinyl- und Schelllackplatten zusammengetragen: Kameruns Musikgeschichte ist bei einem Weißen zu Hause, der seit über 20 Jahren in der Hauptstadt Yaoundé lebt. Inzwischen sind auch noch zahllose Tonband-Patienten aus dem Archiv des kamerunischen Staatssenders CRTV bei ihm gelandet – ein ganzes Zimmer voll. Sie alle warten auf ihre Digitalisierung.

Joachim Oelsner im Arbeitszimmer, in Hintergrund eine riesige Sammlung mit Musikcassetten (Foto: Aya Bach)
Musiksammler: Joachim OelsnerBild: DW/A.Bach

Zwei Jahre Nachtarbeit

Entstanden sind die Radio-Aufnahmen ab 1960, seit dem Ende der Kolonialzeit. Die Verantwortlichen beim Rundfunk wussten damals die Musikkultur ihres Landes zu schätzen und veranlassten Produktionen, in denen sich sämtliche Regionen und Musikstile Kameruns wiederfinden. Und die sind mindestens so vielfältig wie die Landschaft, die von Hochgebirgen über tropische Regenwälder bis zu Bilderbuchstränden reicht. "Musik ist hier ein Gesamtkunstwerk", sagt Joachim Oelsner und gerät ins Schwärmen: von den frappierend unterschiedlichen Rhythmen, die zu den verschiedenen Gegenden gehören, und von den vielfältigen Sprachen, in denen gesungen wird. Rund 250 hat das Land zu bieten. Faszinierend für den Linguisten, der ursprünglich als DAAD-Lektor ins Land kam.

Stapel von historischen Tonbändern (Foto: Aya Bach)
Bedrohtes Kulturgut: Tonbänder in Oelsners WohnungBild: DW/A.Bach

15 Jahre ist es nun her, dass Oelsner die Musik seiner Wahlheimat für sich entdeckte. Schnell wurde er süchtig. Und fand einen kamerunischen Gleichgesinnten: "Mit ihm habe ich zwei Jahre lang ungelogen jede Nacht hier gesessen, Musik gehört und sie übersetzt. Er spricht sehr gut Bulu, er spricht sehr gut Ewondo, Eton und auch ziemlich gut Duala. Wir haben Musik laufen lassen, und er hat erzählt. Ich habe das alles aufgenommen und transkribiert." Im Laufe der Zeit entstand ein veritables Archiv, das 2003 den Namen "Arc Musica" bekam. Oelsner wurde zur Anlaufstelle für alle, die sich mit kamerunischen Musiktraditionen befassen.

Musiker als Historiker

Denn längst ist die Musikkultur der vergangenen Jahrzehnte aus den Dörfern verschwunden und existiert nur noch auf Tonträgern – nur eben nicht für die Ewigkeit. Dringender Anlass also, die mehr als 2000 Musikbänder von CRTV zu retten. Das Projekt, das aus persönlicher Begeisterung hervorging, hat 2012 offiziellen Charakter angenommen. Finanziell wird es vom Auswärtigen Amt der Bundesrepublik unterstützt, auch die Uni Bayreuth und das Goethe-Institut sind beteiligt.

Projektleiter auf Kameruner Seite ist der Anthropologe und Kulturjournalist François Bingono Bingono. Als stellvertretender Chef des Radioprogramms bei CRTV und leidenschaftlicher Musikfan träumt er seit Jahren davon, die historischen Schätze des Senders zu bergen. "Das ist sehr wichtig", sagt er und setzt hinter jede Silbe ein Ausrufezeichen. "Musiker sind Poeten, aber sie sind auch Historiker. Sie sind das Gedächtnis der afrikanischen, der kamerunischen Völker. Musik erzählt zum Beispiel die Geschichte der Migration, die Geschichte unserer Herkunft, aber auch die Alltagsgeschichte. All das haben Künstler im Gesang dargestellt. Man kann alles wiederfinden, wenn man diese Musik wiederentdeckt!"

Bildinhalt: Francois Bingono Bingono (Foto: Aya Bach)
François Bingono BingonoBild: DW/A.Bach

"Die Männer alle stehenbleiben!"

Dass nun ausgerechnet ein Weißer diesen Kulturschatz hebt, kann man getrost als ein Stück historischer Wiedergutmachung betrachten. Denn dass die traditionelle Musik mehr und mehr aus dem Alltag verschwunden ist, geht nicht zuletzt auf das Konto der Europäer. "Als wir diese Import-Religion angenommen haben, die man Christentum nennt, hat man uns gesagt: Eure Instrumente sind des Teufels, eure Rhythmen sind des Teufels, singt Musik zur Ehre Gottes", kritisiert Bingono Bingono: "Da haben sich die Leute immer weiter von ihrer eigenen Musikkultur abgewandt."

Wie sehr Musik und Geschichte verflochten sind, stellt Joachim Oelsner täglich bei seiner Arbeit fest. Gelegentlich macht er auch eher kuriose Entdeckungen. In einem Tanzstück aus der Küstenregion Littoral stieß er auf Einsprengsel in deutscher Sprache: "Die Männer alle stehenbleiben", ist plötzlich zu hören, und: "Ich liebe alle Frauen!" - Spuren der deutschen Kolonialherrschaft über Kamerun, die 1884 im Littoral besiegelt wurde und nach dem Ersten Weltkrieg endete.

Menschen auf dem Maoua Markt, einem der wichtigsten Handelsplätze im Norden Kameruns.
Alltag ohne traditionelle Musik: Markt im Norden KamerunsBild: picture-alliance/dpa

Selbstbewusste Frauen

Systematisch erforscht ist die Musikgeschichte Kameruns noch nicht, auch wenn es etliche Arbeiten dazu gibt. Joachim Oelsner sucht ein gewichtiges maschinengeschriebenes Werk aus dem Regal: Dissertation einer kamerunischen Wissenschaftlerin, 1985 in Paris verfasst. Eine Sammlung von Liedtexten, in denen Frauen ihre Benachteiligung in der Gesellschaft anprangern. "Die Bosheit des Mannes wird nie erwähnt. Aber die der Frauen immer!", heißt es in einem Lied, "die Sterilität der Männer wird nie erwähnt. Der Mann ist nie steril. Es sind immer die Frauen!" Und: "Statt würdig bei deinen Vorfahren zu leben, musst du auswärts um Asyl bitten."
"Dahinter steckt die sogenannte Exogamie", erläutert Joachim Oelsner: "Frauen müssen ins Dorf ihres Mannes ziehen, und wenn sie geschieden werden, kommen sie häufig nicht in ihr eigenes Dorf zurück. Sie werden dann verdammt." Übrigens allzu oft bis heute.

Joachim Oelsner vor seinen Computer-Bildschirmen (Foto: Aya Bach)
Digitale Rettung: Oelsners ArchivBild: DW/A.Bach

Für die Forschung öffnet sich mit dem Digitalisierungsprojekt ein beinahe verlorener Schatz. Doch Oelsners Traum ist eine Mediathek, die nicht nur Wissenschaftlern zugänglich sein soll. Denn immer wieder erlebt er, was den Menschen in Kamerun ihre Musikkultur bedeutet: "Ich habe mit einer Frau aus dem Süden gearbeitet, die hervorragend übersetzt. Als sie das erste Mal hierherkam und diese Musik hörte, hat sie geweint: 'Da komme ich zu einem Weißen und muss meine Musik entdecken!'"