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"Der Westen vergisst arabische Nachbarn"

11. Februar 2011

Der syrische Schriftsteller Rafik Schami lebt seit 1971 in Deutschland. Im Interview mit DW-WORLD.DE spricht er über die Protestwellen im arabischen Raum, kritisiert dabei aber auch die zögerliche Haltung von EU und USA.

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Der in Syrien geborene Schriftsteller Rafik Schami, hier bei einem Auftritt auf der Frankfurter Buchmesse (Foto:dpa)
Der in Syrien geborene Schriftsteller Rafik Schami, hier bei einem Auftritt auf der Frankfurter BuchmesseBild: dpa

DW-WORLD.DE: Herr Schami, in Ihrem zum Teil autobiographischen Roman "Die Dunkle Seite der Liebe" kämpft die Hauptfigur Farid gegen die Repressalien eines autokratischen Regimes - allerdings ohne Erfolg. Warum erfasst dieses Bewusstsein für Gerechtigkeit, Freiheit und Demokratie gerade jetzt ganze Gesellschaften im Nahen Osten, so dass sich sogar Massenbewegungen daraus entwickelt haben?

Buchcover: Schami - Die dunkle Seite der Liebe

Schami: Es sind viele Dinge passiert. Zum einen haben die Regierenden tatsächlich 30, 40 Jahre lang nichts gemacht. Das hat sich angehäuft, und die Lügen verloren mit der Zeit ihre Glaubwürdigkeit vor der größeren Mehrheit der Bevölkerung. Am Anfang war es nur kritischen Bürgern oder Bürgerinnen, Intellektuellen vielleicht, einigen Professoren, Journalisten klar, dass das alles gelogen ist. Aber die Mehrheit ist immer schwerfällig. Bis die Mehrheit das begreift, muss Zeit vergehen. Zum anderen haben die Massenmedien sich revolutioniert. Der gestiegene Informationsaustausch führte zu einer Konzentration der Wut. Die Armut, die Demütigung und die lasche Haltung der Herrscher gegenüber ihrer Nation – hauptsächlich bereichern sie sich, und das auf eine brutale Art – wenn Sie das alles zusammenfügen, könnte das erklären, warum das alles jetzt passiert und nicht vor zehn oder 20 Jahren.

In Ihrem Werk prangern Sie den kulturellen Tiefschlaf und die Missstände sowohl in Ihrem Heimatland Syrien als auch in den anderen arabischen Staaten an. Ist der politische Wandel, den wir dort zur Zeit beobachten, ein gesamtgesellschaftlicher Wandel oder ein Strohfeuer, das bald erlöschen würde?

Demonstranten in Kairo (Foto:dpa)
'Intellektuelle und Parteien wurden von der Entwicklung einfach überrannt'Bild: picture alliance/dpa

Schami: Wenn man nicht naiv ist, muss man beide Möglichkeiten in Betracht ziehen. Es gibt immer die Möglichkeit eines Rückschlags. Es gibt immer Revolutionen, die sich selbst auffressen und in eine blutige Diktatur übergehen. Aber die Ägypter haben eine neue Variante ins Spiel gebracht. Als uraltes Volk haben sie zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit eine friedliche Revolution eingeleitet, gestützt von acht bis neun Millionen Bürgerinnen und Bürgern, die jetzt erkennen, wie handlungsfähig sie sind. Diese Bürger tragen jetzt die knospenartige, frühlingsartige Blumen dieser neuen Erkenntnisse. Damit daraus Früchte entstehen, braucht es aber Bienen, wie wir aus der Welt der Pflanzen wissen. Das braucht Hilfe von Außen, das braucht günstige Situationen. Diese Jugendlichen haben nicht nur die Intellektuellen überrannt, sie haben alle Parteien hinter sich gelassen. Wenn sie ehrlich sind, müssen die Parteien zugeben, dass sie hinterherhecheln. Wie wird sich das im Bewusstsein der Bevölkerung niederschlagen? Das kann man nicht sagen. Man kann nur hoffen, dass das nicht in einen Bürgerkrieg übergeht. Solange die Bevölkerung den Diktator friedlich wegbekommt, ist für sie der Begriff des "Friedens" sehr fruchtbar.

Nun haben wir gesehen, dass der Impuls der Revolution von den Völkern selbst und von den Jugendlichen ausging. Westliche Staaten haben hier nicht interveniert. Wie sehen Sie die Rolle des Westens in der Region nach den letzten Entwicklungen?

Wenn ich ehrlich bin, ist die Rolle des Westens beschämend. Vor allem diese Heuchelei aus den USA. Sofort sorgen sich die USA um die Freiheit und so weiter. Und sie halten uns vor, dass die Muslimbrüder die Macht übernehmen könnten. Das ist alles gelogen. Die Muslimbrüder in Ägypten stellen eine Kraft von etwa zehn Prozent. Ich vergleiche sie immer gerne mit der CSU. Also ich würde jetzt nicht die Demokratie in Frage stellen, weil eine CSU mitregiert. Aber bleiben wir bei Ägypten. Dort gibt es ein breites Spektrum aller Kräfte: Religiöse, Nationalisten, Liberale, Sozialisten, Unabhängige, ganz freie Geister, vielleicht auch Anarchisten. Aber das sind die Ägypter, und der Westen schaut zu. Seit zwei drei Wochen kämpfen die Leute mit dem allerhöchsten Gut der Demokratie, nämlich mit friedlichen Demonstrationen, und man hilft ihnen nicht. Sie merken, wenn der Westen helfen wollte, würde er anders reagieren.

Hat der Westen Ihrer Meinung nach zu lange zugeschaut und die autokratischen arabischen Staaten zu lange unterstützt?

Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy mit dem tunesischen Ex-Diktator Ben Ali (Foto:ap)
Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy mit dem tunesischen Ex-Diktator Ben AliBild: AP

Ja, aber ich glaube, das war nicht mal bösartig. Ich glaube, der Westen vertraut zu schnell auf die Regierenden. Zu schnell auf die Friedhofsstille, die in diesen Ländern herrscht. Zu schnell darauf, dass der Konsum irgendetwas verändern könnte. Das ist das eine, doch der Westen, und ich meinte an erster Stelle Europa, vergisst auch schnell, dass die Staaten am Mittelmeer seine Nachbarn sind. Italien liegt vor Tunesien und vor Nordafrika. Dass das den Westen auch angeht, dieses Bewusstsein ist hier überhaupt nicht vorhanden. Wenn Sie sehen, wie Regierende in allen europäischen Ländern, nicht nur in Deutschland, reagieren. Wenn man sieht, wie Frankreich Ben Ali sogar bis zum letzten Augenblick stützt, merkt man erst, wie schlecht die Lage eingeschätzt wird. Wie dümmlich dieses Angebot an Ben Ali war - man hat fast Mitleid mit Sarkozy.

Lange wurde geglaubt, die arabischen Völker seien nicht bereit für eine Demokratie, und dass sie nur zwischen Diktatur und Gottesstaat wählen können. Teilen Sie diese Meinung?

Ich habe dieses Argument oft gehört und ich habe auch meine Ängste gehabt, weil ich zur christlichen Minderheit gehöre, aber ich habe sie nach einer Weile nicht mehr geglaubt. Es kann immer Rückschläge geben, aber die kann es auch in einer Demokratie geben. Die Bevölkerung wurde jahrelang mit eiserner Faust zum Stillhalten gezwungen, die Islamisten und Muslimbruderschaften waren die einzige Gruppe, die von Saudi Arabien protegiert wurde: mit Geldmitteln, mit Propaganda, mit Schulungen. Und der Westen sah das gern. Solange diese als Antikommunisten, als Instrument zu gebrauchen waren, wurden sie sogar hofiert. Später erschienen die konservativen autokratischen Kräfte als einzige Alternative. Aber was da unten gegoren hat in der Bevölkerung, das haben die Medien nicht begriffen, weder die arabischen noch die europäischen.

Rafik Schami (65) ist ein erfolgreicher deutsch-syrischer Schriftsteller. 1971 kam er nach Deutschland, seit 1982 lebt er als freier Romancier in der Pfalz. Zu Schamis bekanntesten Werken gehören "Die dunkle Seite der Liebe" (2004) und "Das Geheimnis des Kalligraphen" (2008).

Die Fragen stellte Nader Alsarras.
Redaktion: Thomas Latschan