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Deshalb würde ich die EU vermissen

Christoph Hasselbach25. Juni 2016

Okay, das ist bloß Konjunktiv. Es gibt die EU ja noch. Aber was kann man nach dem Brexit eigentlich noch ausschließen? Christoph Hasselbach nennt sechs Dinge an der EU, die ihm wichtig sind.

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zerfledderte Europafahne (Foto: picture-alliance/dpa/C. Charisius)
Bild: picture-alliance/dpa/C. Charisius

Boris Johnson, einer der Anführer der Brexit-Kampagne und möglicher künftiger Premierminister Großbritanniens, hat am Tag nach dem Ausstiegsvotum über die Europäische Union gesagt: "Sie war eine noble Idee für ihre Zeit, aber sie ist für dieses Land nicht mehr richtig." Er meint also, dass die Zeit der EU vorbei ist, dass sie für das Vereinigte Königreich keinen Sinn mehr ergibt. Das würden sicher ganz viele Europäer bestreiten, auch viele Briten. Aber vermutlich noch mehr Europäer können sich ein Europa ohne die EU gar nicht vorstellen. Schließlich leben die meisten von uns seit Jahrzehnten mit ihr und mit dem, was sie uns bietet - möglicherweise ohne uns dessen bewusst zu sein.

Aber nur einmal angenommen, es gäbe keine EU: Was in unserem Leben würden wir vermissen? Hier ist meine kleine persönliche Zusammenstellung:

Offene Grenzen

Anfang der 1980er Jahre, als in Polen das Kriegsrecht herrschte und viele einen sowjetischen Einmarsch befürchteten, habe ich an mehreren Hilfsgütertransporten nach Polen teilgenommen. Etwa alle 50 Kilometer stand ein Panzer auf der Straße, wir mussten unsere Sondergenehmigung vorweisen. Die Grenzkontrollen, erst an der innerdeutschen Grenze, dann besonders an der zwischen der DDR und Polen, dauerten Stunden und waren schikanös. Wir waren der Willkür des Staates ausgeliefert. Heute kann man hin und her über die Oder fahren, ohne überhaupt anzuhalten. Der Unterschied von wenigen Jahrzehnten im freien Reiseverkehr ist so phänomenal, dass er noch heute fast mein Vorstellungsvermögen übersteigt.

Schlagbaum wird geöffnet, mit Merkel (Foto: picture-alliance/dpa/R. Hirschberger)
Freie Fahrt über die deutsch-polnische Grenze, seit Ende 2007 ist das WirklichkeitBild: picture-alliance/dpa/R. Hirschberger

Der Euro

Ich bin immer viel gereist, vor allem nach Großbritannien. In den 1980er und 1990er Jahren war das Fliegen noch zu teuer, also ging es mit Bahn und Schiff durch Belgien und Frankreich oder auch über die Niederlande nach England. Das bedeutete ständiges Geldwechseln. Oft hatte ich vier Währungen dabei: Deutsche Mark, britische Pfund, französische Francs, belgische Francs, und das für eine Reiseentfernung von nur wenigen hundert Kilometern. Wenn ich heute mit dem Auto nach England fahre, reichen zwei Währungen. In Frankreich im Supermarkt kann ich direkt die Preise mit denen in Deutschland vergleichen und merke sofort: Moment mal, diese Flasche Bordeaux kann ich mir ja spielend leisten, oder: Bei den Erdbeeren zocken sie einen aber ganz schön ab (kann auch andersherum sein).

Einheitliche Ladekabel

Diese Errungenschaft ist noch gar nicht da. Erst von 2017 an müssen die Hersteller von Smartphones, Tablets und Handys einheitliche Ladekabel und Stecker anbieten. Der Wirrwarr der vielen unterschiedlichen Formen wird damit vorbei sein, eine Riesenverschwendung und Umweltbelastung auch. Der EU sei dank, auch wenn es sehr lange gedauert hat. Moral: Die gerade Gurke, die die EU einst vorgeschrieben hat, mag übertrieben gewesen sein, aber nicht jede Standardisierung ist schlecht. Mein Tipp für Brüssel: Vereinheitlicht endlich die normalen Netzsteckdosen, es gibt immer noch zu viele verschiedene Systeme in Europa.

Studienaustausch

Das Wintersemester 1986/87 verbrachte ich an einer spanischen Universität. Spanien war gerade erst der EU beigetreten, die damals noch Europäische Wirtschaftsgemeinschaft hieß. Da die europäischen Strukturen in Spanien auch im Hochschulbereich erst am Anfang standen, musste ich dieses Auslandssemester selbst organisieren. Das klappte, förderte sicher auch die Eigeninitiative, war aber auch mühsam und ein bisschen riskant: Es gab nichts und niemanden, auf den ich mich berufen konnte. Heute gibt es einen regen Austausch kreuz und quer durch Europa und weil er so einfach und klar geregelt ist, nehmen auch viele junge Europäer an ihm teil, lernen Sprachen und ihre europäischen Nachbarn kennen.

Stecker Ladegerät (Foto: picture-alliance/dpa/T.Monasse)
Es muss nicht immer die Gurke sein, auch Stecker kann man vereinheitlichenBild: picture-alliance/dpa/T.Monasse

Banküberweisungen

Grenzüberschreitende Geldüberweisungen von einem EU-Land ins andere waren früher so teuer, dass sie sich bei kleineren Beträgen kaum lohnten. Auf 100 Euro 25 Euro Gebühr, da konnte man die Geldscheine ja gleich per Post schicken. Und dieser Zustand dauerte noch ziemlich lang, etwa bis zur Jahrtausendwende. Entsprechend wenig haben Privatleute den Zahlungsverkehr aus dem EU-Ausland genutzt. Nicht immer gelingt es der EU, Verbraucherschutz gegen starke Einzelinteressen wie in diesem Fall gegen die der Banken durchzusetzen. Aber hier ist es gelungen. Mehr davon!

Demokratische Teilhabe

Alle Europäer wählen nicht nur ihre nationalen Parlamente, sondern seit 1979 auch direkt das Europaparlament. Und dessen Einfluss auf die europäische Gesetzgebung ist kontinuierlich gewachsen. Trotzdem geht die Wahlbeteiligung immer mehr zurück. Als Korrespondent berichtete ich von der Wahl 2009. Ich kam mit einem Wahlbeobachter aus Afrika ins Gespräch. Er sagte, viele Länder Afrikas hätten leider bis heute keine wirklich freien und demokratischen Wahlen. Gerade deshalb sei er erschüttert, dass so viele Europäer auf ihr Wahlrecht verzichteten. Ich fand das beschämend für Europa. Gäbe es nicht das Europaparlament mit seinen teils schillernden Figuren, seinen vielen Sprachen und seinem Meinungsspektrum - ich würde es vermissen.