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Deutsch expandiert!

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Kulturpessimisten behaupten, die deutsche Sprache sei vom Aussterben bedroht. Stimmt nicht, erwidert der russische Übersetzer Boris Chlebnikow: Seiner Meinung nach expandiert die Sprache im multimedialen Universum.

Streiten über Deutsch: Chlebnikow Illu 1

Vor einiger Zeit wurde eine Studie der Universität Berkeley veröffentlicht, aus der folgt, dass die nur innerhalb des Jahres 2002 weltweit auf allen Trägern gespeicherte Datenmenge im Umfang etwa allen Wörtern entspricht, die Menschen jemals ausgetauscht haben. Um diese Datenmenge in Büchern unterzubringen, bräuchte man eine halbe Million Bibliotheken von der Größe der amerikanischen Library of Congress, die 19 Millionen Bücher und Drucksachen besitzt. Das ist moderne Kommunikation: Sie expandiert ständig, wird dazu immer schneller und intensiver. Das hat auch Einfluss auf die Entwicklung der Sprache.

Jede Sprache, auch das Deutsche, entwickelt sich durch den Sprachgebrauch. Durch eine enorm expandierende Kommunikation verändert sich die Sprache immer schneller; ein höheres Entwicklungsniveau wird sprunghaft erreicht. Das ist uns oft wenig bewusst, obwohl wir im Alltag ständig mit den vielfältigsten Erscheinungsformen der kommunikativen Revolution konfrontiert werden, uns den wandelnden Bedingungen recht flexibel anpassen, neue Kulturtechniken benutzen und uns neue Kompetenzen aneignen.

Digitalisierung ermöglicht Expansion

In den letzten Jahren konnte ich mehrmals für einige Tage das Heinrich-Böll-Archiv besuchen, wo ich immer wieder von der Arbeit an der 27-bändigen "Kölner Ausgabe" beeindruckt war. Ein kleines internationales Team von Herausgebern betreut dieses umfangreiche Projekt, das insgesamt etwa 20.000 Buchseiten umfasst. Jeder Band verfügt neben den eigentlichen Böll-Texten über einen großen editorischen Anhang mit ausführlichen Informationen zur Textgenese, zum geschichtlichen und biographischen Hintergrund. Die zeitgenössische Rezeption der Texte wird durch ausgewählte Rezensionen dokumentiert. Außerdem werden die Texte von detaillierten Stellenkommentaren begleitet, die unter anderem die Querverbindungen zwischen den Texten herstellen. Somit wird das Projekt zu einem ganzheitlichen Mega- und Hypertext, zu einem Gesamtkodex mit allen dazugehörigen Neben- und Begleittexten, der das Leben und Werk von Heinrich Böll darstellt.

Ermöglicht wird die Arbeit am Projekt erst durch die weitgehende Digitalisierung des Böll-Archivs. Das digitalisierte Archiv wird so zu einer Art Megatext, trotz der Größe gut übersichtlich, mit schnellen Navigationsmöglichkeiten, vielfältigen Rechercheoptionen. Wenn man vor dem Archivcomputer sitzt, hat man das eigenartige Gefühl, alle Böll-Texte samt der dazugehörigen Kommentare und Begleittexte auswendig zu kennen und jede beliebige Stelle oder deren Kombinationen unmittelbar aus dem Gedächtnis abrufen zu können. Das ersetzt die konventionelle Lektüre keineswegs, bereichert diese aber durch unerwartete Lesarten, durch breitere, tiefere und genauere Interpretationsmöglichkeiten, durch ein neues Bewusstsein für die Sprache Heinrich Bölls.

Sprache entfaltet sich im multimedialen Universum

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Ähnliche Erfahrungen habe ich bei meiner Arbeit als Übersetzer von Günter Grass gemacht. Der Steidl-Verlag stellt den Übersetzern sämtliche Werke von Günter Grass im PDF-Format zur Verfügung, also auch eine Art Megatext aller Grass-Texte. 1990 wurde der Wortindex zur "Blechtrommel" vom Luchterhand-Verlag herausgegeben. In der Annotation heißt es: Dieses vollständige Romanvokabular "gibt Auskunft darüber, wie häufig und in welchen Zusammensetzungen welche Wörter erscheinen, und weist mit Seiten- und Zeilenangaben sämtliche Belegstellen nach"; dadurch dient dieses Wörterbuch "als Lesehilfe, als verlässliches Instrument gründlicher Textinterpretation, lädt aber auch zum Blättern, zu überraschenden Entdeckungen ein". Das Einscannen der über 700 Seiten des Romans, ihre elektronische Speicherung und Bearbeitung war für die Herausgeber mühselig genug, obwohl der Wortindex bereits durch ein Computerprogramm hergestellt wurde. Auch die Benutzung des Wortindexes in Form eines Buches und das Zusammensuchen der Belegstellen im Roman anhand der Indexangaben brauchte viel Zeit und war wenig bequem.

Heute besitze ich die gesamte "Göttinger Ausgabe" der Werke von Günter Grass im PDF-Format, was mir in Sekundenschnelle jede Suche nicht nur in einem einzelnen Text, sondern in allen Grass-Werken erlaubt. Bei Bedarf markiere ich ein Wort oder eine bestimmte Textstelle und wechsle von der "Göttinger Ausgabe" zur Internet-Suchmaschine Google oder zu Wikipedia, der freien Enzyklopädie im Netz. So wird der Grass-Megatext zum Hypertext mit unendlich vielen Ebenen und Abzweigungen.

Verdrängung des Deutschen?

Der ständige Kontakt mit dem sprachlichen, ja multimedialen Universum der Mega- und Hypertexte ist heute nicht nur Sache der Sprachexperten, sondern längst zu einer alltäglichen Erfahrung geworden. Die ständig steigenden Nutzerzahlen bei Google und Wikipedia sind ein Beweis dafür. Übrigens ist die deutsche Version von Wikipedia mit etwa einer Million Artikeln, mehr als 330 Millionen Wörtern, über 600.000 Abbildungen, zahlreichen Video- und Audiodateien und nicht zuletzt mit mehr als 1,1 Millionen Webseiten – nach der englischen – mit Abstand die größte Sprachversion der freien Enzyklopädie.

Bereits dieses Beispiel zeigt, in welchen erheblichen Dimensionen sich die Expansion des Deutschen entfaltet. Gleichzeitig erklingen besorgte Stimmen, die vor entgegengesetzten Tendenzen warnen. So behauptet der Berliner Romanist Jürgen Trabant, dass Deutsch als "Kultursprache" einerseits vom Englischen aus den "oberen" Lebensbereichen wie Wirtschaft und Wissenschaft verdrängt werde und andererseits von den Dialekten aus den "unteren" Lebensbereichen wie Familie, Alltag und Freizeit.

Nationalsprachen existieren in wachsender Konkurrenz zueinander

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Meines Erachtens geht es aber gar nicht so sehr um die vermeintliche Verdrängung des Hochdeutschen, der Literatursprache, sondern vielmehr um die wachsende Konkurrenz zwischen dem globalen Englisch, den Nationalsprachen und den Dia- und Soziolekten, die – gleichsam gefördert durch die Entwicklung der neuen Medien und Technologien stark – expandieren und sich alle gegenseitig mit wechselnden Erfolgen Bedeutungskämpfe liefern. Zu den territorialen und lokalen Mundarten könnte man auch noch deutsche Soziolekte und sogar Idiolekte hinzuzählen, die sich schnell entwickeln, differenzieren, modische Konjunkturen durchlaufen.

Sprache und Sprachgemeinschaft verändern sich eben immer schneller, und so werden auch die kommunikativen Situationen und Kommunikationsgattungen immer komplexer und differenzierter. Die Sprecher sind neuen und verstärkten Kommunikationserwartungen und -zwängen ausgesetzt. Höhere kommunikative Kompetenzen werden erforderlich. Nach Angaben des Bildungswerks der Bayerischen Wirtschaft veranstalten in Deutschland etwa 30.000 Anbieter jedes Jahr Zehntausende von Weiterbildungs-Seminaren, ein großer Teil davon beschäftigt sich mit "Kommunikationstraining".

Die Situation der deutschen Sprache ist also gar nicht so schlecht, wie vielerorts behauptet wird. Oder, um mit dem deutschen Sprachwissenschaftler Peter Eisenberg zu schließen: "Die deutsche Sprache war noch nie so gut in Form wie heute. Gar keine Frage! Das Deutsche hatte noch nie einen so großen Wortschatz. Und wir haben heute im Bereich der Syntax wahnsinnig feine Differenzierungsmöglichkeiten – viel größere etwa als zur Zeit der Klassik. Außerdem hat es noch nie so vielfältige Verwendungsmöglichkeiten des Deutschen gegeben."

NICHT LÖSCHEN!! Weißzeile für Projekt Sprache von Welt? Streiten über Deutsch
Boris Chlebnikow (Foto: DW)

Boris Chlebnikow, Jahrgang 1943, ist Germanist, Journalist und Übersetzer. Er hat unter anderem Werke von Günter Grass, Heinrich Böll, Siegfried Lenz und Bernhard Schlink ins Russische übertragen. Für seine Übersetzungen wurde er mehrfach ausgezeichnet. Boris Chlebnikow lebt und arbeitet in Moskau.

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