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Deutsch-russische Versöhnung in Rossoschka

Juri Rescheto7. September 2016

Im russischen Rossoschka wird an das dunkelste Kapitel der deutsch-russischen Geschichte erinnert, an die Schlacht von Stalingrad. Aus Rossoschka berichtet Juri Rescheto.

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Der deutsche Soldatenfriedhof in Rossoschka (Foto: DW/R. Richter)
Bild: DW/R. Richter

Ein schlichtes Kreuz mitten in der Steppe. Windstill. Blauer Himmel. Die Sonne steht hoch. Frieden, wo vor 73 Jahren Krieg herrschte. Wo einst die Erde brannte und Zehntausende Männer ihr Leben verloren. In der grausamsten und verlustreichsten Schlacht seit Menschengedenken, in der Schlacht von Stalingrad.

Hier in Rossoschka, vierzig Kilometer vor dem heutigen Wolgograd begann 1943 die Vernichtung der 6. Armee der Deutschen Wehrmacht. Hier bekam die Geschichte des Zweiten Weltkriegs eine Wende.

"Frieden ist das wichtigste Gut"

Die Friedenskapelle in Rossoschka des Kasseler Architekten von Reuß steht für Versöhnung. Versöhnung zwischen den einstigen Todesfeinden, zwischen Russen und Deutschen, zwischen Toten, die heute auf beiden Seiten der Kapelle ruhen. Die offen gestaltete Sandstein-Komposition ist genau in der Mitte - zwischen dem russischen und dem deutschen Soldatenfriedhöfen.

Die Friedenskapelle von Rossoschka (Foto: DW/R. Richter)
Die Friedenskapelle von RossoschkaBild: DW/R. Richter

"Der Frieden ist das wichtigste Gut, das wir haben und das wir auch verteidigen müssen. Wo kann man den Frieden besser zum Ausdruck bringen, als an dem Ort, der an die Vergangenheit erinnert, aber auch als Mahnung an die Zukunft seinen Auftrag hat" - sagt Christian Holtz. Er hatte die Idee einer gemeinsamen Kapelle. Er war hartnäckig im Kampf gegen die Behörden, er suchte und fand Mitstreiter und Sponsoren in Deutschland und Russland.

Christian Holtz ist Initiator des Projekts (Foto: DW/R. Richter)
Christian Holtz ist Initiator des ProjektsBild: DW/R. Richter

Arbeiten an der Annährung

Der grauhaarige Mann aus Bayern hat die Annährung zwischen beiden Völkern zu seiner Lebensaufgabe gemacht. Stolz erzählt er, dass diese Kapelleneröffnung sein 119. Besuch in Russland ist. Er gibt Interviews in fließendem Russisch und wünscht sich, dass die vielen Wolken, die es zur Zeit in den deutsch-russischen Beziehungen gibt, "so schnell wie möglich wieder beiseite geschoben" werden: "Heute ist auf diesem Feld des Friedens eine Entwicklung eingetreten, die ganz starke Strahlkraft hat, die die Menschen zum Nachdenken bringt."

Projekte wie die Friedenskapelle von Rossoschka sollen dabei helfen. Denn der Zweite Weltkrieg ist immer noch sehr präsent im kollektiven Bewusstsein der Russen, die - nach neuesten Forschungen - bis zu 30 Millionen Menschen im deutsch-sowjetischen Krieg zwischen 1941 und 1945 verloren haben. Allein in Stalingrad kamen 700.000 Menschen um. An die erinnert heute die riesige Statue "Mutter-Heimat", die größte freistehende Figur der Welt am so genannten Mamaev-Hügel mitten in der Stadt. Bei jeder Jahreszeit und jedem Wetter kommen Russen hierher, sie legen Blumen nieder. Brautpaare halten es für eine Ehre, hier am Hochzeitstag fotografiert zu werden.

Bestrebungen den Namen Stalingrad wiederzubeleben

"Wir müssen immer daran denken, was einmal geschah" - sagt eine Mittfünfzigerin mit Sonnenhut. "Unsere Kinder werden heute falsch erzogen, weil sie die Rolle von Stalin nicht mehr schätzen." "Und wie ist sie, diese Rolle?", frage ich. "Er war der Sieger. Und ich habe hohen Respekt vor ihm", erwidert die Frau.

In Wolgograd denken viele heute so. Nicht nur die Älteren. Seit Jahren gibt es hier Bestrebungen, die Stadt in Stalingrad umzubenennen. Bisher ohne Erfolg. Mit der Rolle von Stalin im Zweiten Weltkrieg, mit dem Sieg der Sowjetunion über Nazi-Deutschland werden oft eigene Verbrecher des sowjetischen Diktators relativiert. Verbrecher des Sowjetregimes, die Millionen von unschuldigen Menschen brachten, Russen, Ukrainer, Menschen aus allen Sowjetrepubliken, die in den eigenen Lagern sterben mussten.

Die Mutter-Heimat-Statue in Wolgograd Russland (Foto: Colourbox)
Die Mutter-Heimat-Statue in WolgogradBild: Colourbox

"Heute sind wir keine Feinde mehr"

In Rossoschka erinnert nichts an Stalin. Hunderte Helme auf Granitsteinen erinnern an die fast 20.000 toten russischen Soldaten, die hier beerdigt sind. Einzelne Ruhestätten neben einem riesigen Massengrab. Neben ihren deutschen Kameraden. Ja, genau dieses Wort höre ich von Michail Balibardin, einem heute 94jährigen Russen, einem der wenigen Zeitzeugen, die heute noch am Leben sind.

Schwerkrank lebt er heute in der Industriestadt Wolschskij am anderen Ufer der Wolga. Ich besuche ihn, um mehr über die Schlacht von Stalingrad zu erfahren. Er selbst kann leider nicht mehr nach Rossoschka kommen. Keine Kraft mehr. "Nimm diese Blumen, Jung - sagt er zu mir, - und lege sie auf die Gräber der Deutschen, meiner Kameraden. Heute sind wir keine Feinde mehr."