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Die Deutschen und ihre Erinnerungskultur

Dana Regev
15. Juli 2020

DW-Autorin und Israelin Dana Regev hat beobachtet, dass sich viele Deutsche für die NS-Vergangenheit ihres Landes schämen - und vielschichtig damit umgehen.

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München, Holocaust Mahnmahl Stolpersteine
Bild: picture-alliance

Egal, wo man herkommt - jedes Land hat irgendeine Form der Erinnerungskultur. Diese kann sich in Nationalfeiertagen oder in Denkmälernund Gedenkstätten von historisch bedeutsamen Persönlichkeiten äußern. Aber wer schon einmal Zeit in Deutschland verbracht hat, hat eventuell bemerkt, dass die Deutschen mit ihrer Vergangenheit anders umgehen, als es andere Länder tun - aus nachvollziehbaren Gründen. Doch wie sie das tun, ist nicht immer leicht zu verstehen. Folgendes sollte man deshalb wissen.

1. Die deutsche Flagge ist vielen Menschen peinlich

Wenn ein Land die Fußball-Weltmeisterschaft gewinnt, hängen die Menschen dieses Landes normalerweise als erstes die Nationalflagge aus dem Fenster, oder sie schwenken sie aus ihren Autos. Bis vor einigen Jahren war das in Deutschland nicht der Fall. Anders als in vielen Ländern werden die Nationalsymbole hier nicht mit Stolz, sondern eher als Mahnung gesehen. Für den Holocaust verantwortlich zu sein und für den ersten Genozid des 20. Jahrhunderts - den an den Herero und Nama -, spielt eine große Rolle im kollektiven Empfinden.

Schwarz-Rot-Gold während des Sommermärchens 2006
In Deutschland noch recht neu: Jubel mit FlaggeBild: picture-alliance/dpa

 2006, als die WM in Deutschland stattfand, war das tatsächlich ein absolut neues Phänomen: "So viel Schwarz-Rot-Gold war seit der Wiedervereinigung nicht", schrieb das Wochenmagazin Der Spiegel mit Blick auf die zahlreichen deutschen Flaggen, die die Autos der Fans, Balkons, Hüte und Schals zierten. Als Reaktion auf den neuen Trend äußerten sich damals viele Kulturexperten zur schwierigen Beziehung der Deutschen zum Patriotismus.

Bei Sportveranstaltungen ist die deutsche Flagge seitdem also zunehmend beliebter geworden, im deutschen Alltag dagegen findet man sie weiterhin eher selten. Tatsächlich ist es wahrscheinlicher, die EU- oder die Regenbogenfahne von einem Balkon hängen zu sehen, als die nationale.

"Wir machen das einfach nicht, damit sind wir nicht aufgewachsen", sagt Jessica, eine 38-jährige Kölner Café-Besitzerin. "Wegen der deutschen Vergangenheit sind offenbar viele Menschen nicht gerade stolz auf Dinge, die Deutschland repräsentieren", erklärt sie. "Ich denke, das ist besser als blinder Patriotismus."

2. Frühe Information über historische Tatsachen 

Etwas über die deutsche Geschichte zu erfahren - und besonders über den Zweiten Weltkrieg - ist nicht nur Akademikern oder Museumsbesuchern vorbehalten. Tatsächlich sind historische Museen oft voll von Schülern bereits ab etwa zwölf Jahren, die dort etwas über die Nazi-Herrschaft und die Gräueltaten, die sie der Menschheit angetan haben, lernen.

"Die Erinnerungskultur ist ein Mittel, das dazu beiträgt, die Nation zusammenzuhalten, um den Menschen eine 'gemeinsame' Vergangenheit zu geben", erklärt Mike Stuchbery, ein australischer Geschichts- und Gemeinschaftskundelehrer, der in Stuttgart lebt. 

"Ich erinnere mich, dass ich mindestens drei Mal auf dem Gymnasium ausführlich über den Zweiten Weltkrieg unterrichtet wurde", sagt Paul Koch, ein 33-jähriger IT-Spezialist aus Berlin. "Außerdem haben wir ein Konzentrationslager besucht", erzählt er. Für ihn ist klar, warum die Erinnerungskultur in Deutschland stärker ausgeprägt ist als in vielen anderen Ländern.

Ein Mädchen hört in einem Museum etwas zum Holocaust
Schon als Kinder werden Deutsche mit den Gräueltaten der Nazis konfrontiertBild: Anna Ilin

"Deutschland war verantwortlich für unvorstellbare Verbrechen. Nicht 'Nazi-Deutschland' - Deutschland", betont er. "Deshalb ist es kein Wunder, dass wir darüber immer wieder unterrichtet werden", so Koch. Stuchbery stimmt zu: "Diese Generation der Deutschen hat sich der Herausforderung gestellt, herauszufinden, wie sie die Schrecken der Vergangenheit anerkennen und die Erinnerung daran wach halten kann." Er ergänzt: "Dokumentationszentren, Denkmäler - wie das für die ermordeten Juden Europas in Berlin und dieKZ-Gedenkstätte Dachau nahe München - versuchen eine Balance zwischen der Anerkennung schrecklicher Taten und ihrer kontextualisierenden Einordnung zu finden."

Paul Koch erinnert sich, wie einige seiner früheren Klassenkameraden sich damals beschwerten: Sie waren der Berichte über die Gräueltaten der Deutschen überdrüssig geworden. Er rollt mit den Augen, als er hinzufügt: "Aber sie verstehen nicht, dass wir das nicht nur wiederholen, weil wir Deutsche sind, sondern weil unsere Vergangenheit ein schreckliches Beispiel dafür ist, was anderswo passieren könnte - auch in der Gegenwart."

3. Den Stift ehren, nicht die Waffe 

Die Deutschen wissen, wozu es führen kann, einen Führer zu glorifizieren. Darum sind ihre Helden vor allem Schriftsteller oder Komponisten und keine Armeegeneräle.

So ist Weimar heute international als Goethe-Stadt bekannt; das Haus, in dem der Dichter und Universalgelehrte wohnte, ist zu einem Nationalmuseum umgebaut worden.

Beethoven-Statue von Ernst Hähnel und Jacob Daniel Burgschmiet auf dem Münsterplatz mit ehemaligem Hauptpostamt. Das Pro
Unbelastetes Stück deutscher Geschichte: Beethoven-Statue in BonnBild: imago images/Future Image/C. Hardt

In der früheren Bundeshauptstadt Bonn, der Geburtsort Beethovens, stehen mehrere Statuen des berühmten Komponisten. Denkmäler für Johann Sebastian Bach und Martin Luther heißen Besucher in Eisenach willkommen - wo Bach geboren wurde und Luther einige Jahre gelebt haben soll.

"Damit fühle ich mich wohler", gibt die in Köln wohnende Jessica zu. "In Kriegen gibt es ohnehin keine Gewinner, und wenn wir schon Symbole öffentlich zeigen müssen, dann sollten es solche sein, auf die sich alle - oder fast alle - verständigen können", erklärt sie. "Im Zuge von 'Black Lives Matter' und dem frischen Blick auf Vergangenes wird es interessant sein zu sehen, wie andere Geschehnisse der deutschen Geschichte präsentiert und erinnert werden", sagt Stuchbery.

Dana Regev, Autorin DW-Englisch
DW-Autorin Dana RegevBild: DW/M. Müller

4. Witze sind nicht immer angemessen

Ich bin eine israelische Jüdin, deren Großeltern Deutschland verließen, bevor der Zweite Weltkrieg offiziell begonnen hatte. Aber auch nach sechs Jahren, die ich nun in Deutschland bin, überrascht mich, dass ich mit schwarzem Humor (und ich meine SEHR schwarzen Humor) besser umgehen kann als der durchschnittliche Deutsche.

Im besten Fall nehmen Deutsche als Reaktion auf einige meiner Witze die Farbe einer Tomate an, im schlechtesten fühlen sie sich extrem angegriffen oder sind sehr verwirrt - vor allem, wenn es in irgendeiner Weise um den Holocaust geht.

Wenn Du also Deutschland als Tourist besuchen solltest, erst kürzlich in eine deutsche Stadt gezogen bist oder einen deutschen Kollegen hast - gehe nicht zu unbedacht mit Deutschlands vergangenen Gräueltaten um. Zumindest nicht, bis alle wissen, dass Du kein Rechtsradikaler bist. Denn leider gibt es auch heutzutage wieder viele deutsche Anhänger rechten Gedankenguts. Übrigens: Der Hitlergruß, auch als vermeintlicher Spaß, ist in der Öffentlichkeit verboten.

Alles in allem zolle ich den Deutschen Respekt dafür, dass sie zumindest die Verantwortung für ihre Taten übernehmen. Viele andere Länder haben an der Menschheit mehr als genug Schaden angerichtet und sind nicht so engagiert, ihre Schuld einzugestehen. Geschweige denn den nachfolgenden Generationen zu vermitteln: Nie wieder.

Mehr über Deutschland und das alltägliche Leben in Deutschland findest Du auf dw.com/MeettheGermans, auf YouTube und auf unserem neuen Instagram-Kanal @dw_meetthegermans.