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Musik

Das Unfassbare vergegenwärtigen

Elżbieta Stasik
2. Dezember 2016

Schweigen, Erinnerung, Aufarbeitung des Unfassbaren, die Gräuel des Nationalsozialismus: Themen, die israelische und deutsche Künstler in Breslau auf die Bühne gebracht haben. DW-Reporterin Elżbieta Stasik war dabei.

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Israelisches Musiktheater in Wroclaw
Bild: T. Fila

"Ist das Ihr Rucksack? Gut, ich dachte schon, man müsste die Sicherheitsleute holen", sagt ein Mann in der Reihe hinter mir. Kurz habe ich meinen Rucksack unbeaufsichtigt liegen gelassen. Nicht, dass der Mann überängstlich wäre - aber die Zeiten seien unberechenbar geworden. "Wieder einmal", sagt er.

Der Mann heißt Ryszard Plato und wohnt etwa 100 Kilometer entfernt von Wrocław (Breslau). Und trotzdem ist er heute Abend gekommen, um sich die Aufführung dort, in der Europäischen Kulturhauptstadt 2016, anzusehen. Der Abend wird sich um die jüdische Kulturgeschichte drehen, um den Umgang mit Erinnerungen an die Zeit des Nationalsozialismus. Zeitgenössische Kammeropern wird es heute zu hören geben. Deutsche und israelische Künstler werden zusammen auf der Bühne stehen. Und das in der Synagoge "Zum Weißen Storch" im polnischen Wrocław, die sinnbildlich für die Vernichtung der jüdischen Gemeinde während der Nazi-Zeit, aber vor allem für das Leben der Juden in der Stadt steht. 

Plato erzählt, dass er in seiner Freizeit in Polen herumreist, um sich interessante jüdische Veranstaltungen anzusehen: "Es ist eine so unglaublich reiche Kultur." Mit der Liebe zur jüdischen Kultur habe ihn seine polnische Mutter infiziert, die mit jüdischen Kindern aufgewachsen sei. In Wrocław habe er als Kind bei seinen griechischen Verwandten immer die Sommerferien verbracht. Irgendwann seien diese dann ausgewandert. Genauso wie viele polnische Juden, die auch nach Ende des Zweiten Weltkriegs im Kommunismus verfolgt wurden und deshalb das Land verlassen haben. 

Synagoge "Zum Weißen Storch"

Polen Breslau Synagoge Zum Weißen Storch
Die Synagoge Zum Weißen Storch in Breslau Bild: DW/N. Wojcik

Der Abend steckt voller Geschichte. Der Saal füllt sich langsam. Gedämpfte Lichter, die Wände strahlen Würde aus. "Ich habe mich sofort in die Synagoge verliebt", sagt Bruno Berger-Gorski, der Regisseur der Kammeropern im Gespräch mit der DW. Im letzten Jahr hat er in Wrocław "Macbeth" inszeniert. Die Synagoge hat er durch einen Hinweis des deutschen Konsulats entdeckt: "Dieser Ort passt perfekt zu unserer Inszenierung."

Die Synagoge "Zum Weißen Storch" war einmal ein Gasthaus, dann kam der preußische Baumeister Carl Ferdinand Langhans und baute eine Synagoge. Der Name ist bis heute geblieben; er passt. Das jüdische Leben in Wrocław war vielfältig, bunt und tolerant. Die jüdische Gemeinde zählte fast 25.000 Menschen. Bis die Nazis kamen. Die Synagoge hat die Pogromnacht 1938 wie durch ein Wunder überdauert, die jüdische Gemeinde nicht. Das bisschen, was nach dem Krieg noch von ihr geblieben war, haben die Kommunisten fast ausgelöscht.

Die Mauer des Schweigens durchbrechen

Die Inszenierung beginnt. Die deutschen und israelischen Künstler zeigen in der Synagoge drei Kammeropern: "Else", eine Hommage an die deutsch-israelische Dichterin Else Lasker-Schüler, deren Vertonung der in Polen geborene israelische Komponist Josef Tal übernommen hat. "Lied", ebenfalls ein Text von Lasker-Schüler, wurde von dem italienisch-israelischen Komponisten Luca Lombardi vertont. Außerdem wird "Gespräch mit einem Stein" aufgeführt, für das Ella Milch-Sheriff, israelische Komponistin und Tochter polnischer Juden, den Text der polnischen Dichterin und Nobelpreisträgerin Wisława Szymborska vertont hat.

Die Wurzeln der Akteure spielen auch bei dem Projekt eine Rolle. "Ella Milch-Sheriff ist in Israel geboren, ich in Gdańsk, und immer umgab uns eine Mauer des Schweigens. Niemand von der alten Generation sprach darüber, was vorgefallen ist", erzählt Berger-Gorski.

"Ich klopfe an die Tür des Steins. Ich bin's, mach auf", schrieb einst die Dichterin Szymborska. Für sie verkörperte der Stein die menschlichen Sehnsüchte, das Streben nach der Wahrheit, die ewige Suche nach Antworten. "Für mich verkörpert der Stein den polnischen Vater, der nie erzählen konnte, was los war. Der Stein erzählt auch nichts, er lässt niemanden an seinem Geheimnis teilhaben", erklärt der Regisseur. "Niemand spricht gerne über diese Themen, deshalb ist die Vergangenheitsbewältigung wichtig für die Akzeptanz unserer Wurzeln", fügt er hinzu.

Regisseur Bruno Berger-Gorski und Deutsche Generalkonsulin in Breslau Elisabeth Wolbers
Regisseur Bruno Berger-Gorski und die deutsche Generalkonsulin Elisabeth WolbersBild: DW/E. Stasik

Ein nachdenklicher Abend

Die einzelnen Stücke dauern zehn, zwanzig Minuten. Im Saal herrscht Stille. "Unglaublich, die Intensität dieser Kurzform, das Spiel der Schauspieler, die Musik. Überwältigend", flüstert meine polnische Sitznachbarin. Und das, obwohl weder sie noch mindestens die Hälfte aller Zuschauer ein Wort verstanden haben: Die Texte sind auf Deutsch und Hebräisch.

Die Zuschauer sind in sich gegangen, überall sieht man nachdenkliche Gesichter. Selbst die Pflastersteine im Hof und die steinernen Mauern der Synagoge scheinen an diesem Abend eine besondere Ruhe auszustrahlen. An der Mauer der Synagoge hängt eine Tafel: "Von diesem Platz wurden in den Jahren 1941 bis 1944 die Breslauer Juden durch die Nationalsozialisten in die Vernichtungslager deportiert. Wir wollen sie niemals vergessen!" Das Unfassbare ist immer gegenwärtig.

Synagoge wird zum internationalen Zentrum für jüdische Kultur

Heute zählt die jüdische Gemeinde in Wrocław ein paar hundert Mitglieder. Dank der Synagoge, die zum Garant anspruchsvoller Kunst und Kultur geworden ist, ist die Gemeinde in der Gesellschaft präsent. Dafür ist vor allem die norwegisch-jüdische Schauspielerin und Musikerin Bente Kahan verantwortlich.

2006 gründete sie in Wrocław die Stiftung "Fundacja Bente Kahan", sie half erheblich beim Aufbau der Synagoge. Unter ihrem Einfluss verwandelte sich das Gebetshaus in ein internationales Zentrum für jüdische Kultur und Erziehung und in ein Museum der schlesischen Juden. "Warum habe ich mich in Wrocław engagiert? Nun, mein Mann ist aus Wrocław, das ist schon ein wesentlicher Grund, oder?", fragt Bente Kahan und lacht. "Für mich ist das jüdische Erbe sehr wichtig", fügt sie ernst hinzu.

Israelisches Musiktheater in Wroclaw
Bild: T. Fila

Nicht alles ist gut

Im November 2014 verbrannten polnische Rechtsradikale auf dem Rathausmarkt in Wrocław eine Puppe, die einen orthodoxen Juden darstellte. Hier und da wurden Hakenkreuze an die Wände geschmiert. So etwas bleibt nicht ohne Spuren. Die Synagoge Zum Weißen Storch liegt im sogenannten Toleranzviertel: Hier sind neben der Synagoge auch noch eine russisch-orthodoxe, eine evangelische und eine katholische Kirche versammelt. Der Eingang der Synagoge wird nicht wie etwa in Berlin bewacht. Am Abend nach dem Konzert ist es ruhig, herbstlich nass, die Zuschauer zerstreuen sich langsam.

Ich will noch einen Mann mit Kippa auf dem Kopf nach seinen Eindrücken zum Konzert fragen. "Nein, bitte nicht, ich hatte schon genug Ärger mit den Medien", sagt er sehr entschieden. Keine Einzelheiten. So etwas wie der Vorfall auf dem Rathausmarkt geht nicht einfach vorbei. Und es schien so, als wäre der Abend in Wrocław perfekt.