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Deutschland: Das Ende der goldenen Jahre

15. Januar 2020

Das Statistische Bundesamt hat eine gute und eine schlechte Nachricht: Europas größte Volkswirtschaft wächst das zehnte Jahr in Folge - das ist die gute. Die schlechte lautet: Die Boomjahre sind jetzt definitiv vorbei.

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Bild: picture alliance/Arco Images GmbH/B. Boensch

Die deutsche Wirtschaft hat unter dem Eindruck von Handelskriegen, globalen Konflikten und der schwächeren Weltkonjunktur abermals einen Gang zurückgeschaltet. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) legte 2019 nur noch um 0,6 Prozent zu, nach 1,5 Prozent und 2,5 Prozent in den Jahren 2018 und 2017. Das teilte das Statistische Bundesamt am Mittwoch in Berlin anhand vorläufiger Daten mit.

2019 war das zehnte Wachstumsjahr in Folge seit 2010. Damals musste sich Europas größte Volkswirtschaft von der tiefen Rezession 2009 infolge der globalen Finanzkrise erholen.

Gestützt wurde die Konjunktur im vergangenen Jahr dem Bundesamt zufolge abermals von der Kauflust der Verbraucher. Die privaten Konsumausgaben legten mit plus 1,6 Prozent spürbar stärker zu als in den beiden Vorjahren. Hinzu kam der anhaltende Bauboom. Auch die Konsumausgaben des Staates, zu denen unter anderem soziale Sachleistungen und Gehälter der Mitarbeiter zählen, legten den Angaben zufolge zu.

Deutschland Symbolbild | Einkaufen mit Plastiktüten
Nicht zum ersten Mal: Der private Konsum rettet die Wirtschaft des Ex-Exportweltmeisters vor der RezessionBild: picture-alliance/dpa/F. Kraufmann

"Von Rezession noch weit entfernt"

Der Konjunkturchef des Münchener Wirtschaftsforschungsinstitutes ifo, Timo Wollmershäuser, weist auf einen entscheidenden Unterschied zur letzten Abschwungphase der deutschen Wirtschaft hin: Die schwache deutsche Industrie habe bislang andere Wirtschaftszweige kaum angesteckt: "Damit unterscheidet sich der aktuelle Abschwung von jenem der Jahre 2011 bis 2013, als Deutschland von der Eurokrise erfasst wurde."

Auch andere Bobachter kommentieren die aktuellen Zahlen des Statistischen Bundesamtes eher zurückhaltend. Martin Moryson, Chefvolkswirt von Europa DWS, stellt zwar fest, dass das deutsche Wachstum von 0,6 Prozent im vergangenen Jahr eines der schwächsten aller Industrieländer sei, lediglich Italien sei noch schlechter.

Doch die Frage, ob Deutschland damit knapp nur einer Rezession entgangen sei, stellt sich für ihn so nicht: "Nein, das wäre eine Fehlinterpretation. Die Kapazitäten in der Industrie und im Bausektor waren 2017/2018 deutlich überausgelastet. Nach der langen Schwächephase sind die Kapazitäten nun deutlich weniger ausgelastet; aber von einer massiven Unterauslastung, wie sie zu einer Rezession gehört, ist Deutschland weit entfernt:"

BdTD Deutschland | Hochmoselbrücke vor der Eröffnung in Zeltingen-Rachtig
Rückkehr zur Normalität beim Bau? Die gerade fertiggestellte Hochmoselbrücke - ein Beispiel des deutschen Baubooms.Bild: picture-alliance/dpa/H. Tittel

"Investitionen und Steuerentlastungen"

Auch Florian Hense von der Berenberg Bank sieht die aktuellen Konjunkturzahlen eher entspannt: "Innerhalb der nächsten zwei Jahre sollte sich die Lage allmählich verbessern und das Wachstum könnte zur Trendrate von 1,5 Prozent zurückkehren. Der Abschwung im globalen Welthandel hat Deutschland mehr als jede andere große Volkswirtschaft getroffen. Natürlich ist angesichts der anhaltenden globalen Unsicherheiten und der Herausforderungen für den inländische Autosektor eine Enttäuschung möglich. Vorerst bleibt der Trend solide."

Der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), Martin Wansleben, weist darauf hin, dass nur die solide Binnenkonjunktur Schlimmeres hatte verhindern können. Er befürchtet zwar kein Schrumpfen der Wirtschaftskraft, mahnt aber Investitionen an: "Das Wirtschaftswachstum 2019 ist ein Warnsignal. Die Konjunktur wird sich auch 2020 seitwärts bewegen. Deutschland muss besser werden. Dies gilt beim Ausbau einer modernen Infrastruktur, Investitionen in Bildung und bei der Steuerbelastung."

Die Leistungsträger schwächeln

Besonders die exportorientierte deutsche Industrie hat, das zeigen die Daten des Bundesamtes, in der Tat ein hartes Jahr hinter sich: Die Handelsstreitigkeiten und das Drama um den Brexit verunsicherten Kunden und bremsten Investitionen. Deutsche Schlüsselbranchen wie der Auto- und Maschinenbau sowie die Elektro- und Chemieindustrie bekamen das deutlich zu spüren. Die Industrie rutschte deswegen sogar im Jahresverlauf in eine handfeste Rezession.

Der Außenhandel fiel unter anderem deswegen als Wachstumstreiber aus. Nach den vorläufigen Berechnungen legten die Importe mit plus 1,9 Prozent stärker zu als die Ausfuhren von Waren und Dienstleistungen mit lediglich 0,9 Prozent.

Lichtblick in der dunklen Jahreszeit

Die deutsche Wirtschaft ist zum Jahresende 2019 allerdings voraussichtlich erneut etwas gewachsen. Im vierten Quartal habe es "Anzeichen einer leichten Erholung" gegeben, so das Statistische Bundesamt am Mittwoch. Eine erste offizielle Schätzung soll es allerdings erst Mitte Februar geben.

Im dritten Quartal hatte es nur zu einem Mini-Plus von 0,1 Prozent gereicht. Im Frühjahr 2019 war die Wirtschaftsleistung sogar um 0,2 Prozent gesunken und hatte Deutschland damit an den Rand einer Rezession gebracht.

Strukturelle Probleme

Die Weltbank attestiert der deutschen Wirtschaft eine nachlassende Wettbewerbsfähigkeit. In ihrem "Ease of Doing Business Index" - ein Gradmesser für die Geschäftsfreundlichkeit von Volkswirtschaften - rutschte Deutschland zuletzt deutlich ab und findet sich nur noch auf dem 22. Platz wieder, hinter Ländern wie Nordmazedonien und Georgien. "Wir sind zu einem Schnarchland geworden, weil es uns zehn Jahre richtig gut ging", kritisiert etwa der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Dieter Kempf. Steigende Energiekosten, vergleichsweise hohe Steuern, viel Bürokratie - all das steht Experten zufolge einer besseren Wettbewerbsfähigkeit und damit mehr Wachstum im Weg.

USA Weltbank-Zentrale in Washington
Auch die Weltbank (hier die Zentrale des IMF in Washington) warnt die deutsche Wirtschaft vor SelbstzufriedenheitBild: Reuters/Y. Gripas

Zwar sagen führende Institute für dieses und nächstes Jahr neue Rekorde bei der Beschäftigung voraus, doch dürfte spätestens in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts der demografische Wandel zuschlagen. Das Statistische Bundesamt geht davon aus, dass die erwerbsfähige Bevölkerung bis 2035 um rund vier bis sechs Millionen schrumpfen wird. Der Fachkräftemangel dürfte sich mithin noch verstärken.

Gleichzeitig altert die Gesellschaft: Die Zahl der Menschen im Alter ab 80 Jahren soll von 5,4 Millionen im Jahr 2018 bereits bis 2022 auf 6,2 Millionen nach oben schnellen. Dadurch werden die Ausgaben der Sozialkassen - etwa für Renten-, Pflege- und Krankenversicherung - stark steigen. Das wiederum könnte dafür sorgen, dass Bürger wie Unternehmen höhere Sozialbeiträge leisten müssen, was wiederum den privaten Konsum dämpfen und die Wettbewerbsfähigkeit drücken dürfte.

Ein Minister kann sich die Hände reiben

Von der immer noch wachsenden Wirtschaft und den anhaltend niedrigen Zinsen profitiert weiterhin auch der Fiskus, wenn auch nicht mehr so stark wie noch 2018. Der deutsche Staat konnte nach Berechnungen der Statistiker 2019 zum sechsten Mal in Folge deutlich mehr Geld einnehmen als ausgeben.

Der Überschuss von Bund, Ländern, Gemeinden und Sozialkassen machte unter dem Strich 1,5 Prozent des BIP aus, nach 1,9 Prozent im Vorjahr. Der Überschuss belief sich auf insgesamt 49,8 Milliarden Euro. Ein Defizit hatte Deutschland zuletzt 2011 verbucht. Danach gab es zwei Jahre mit einer ausgeglichenen Bilanz von 0,0 Prozent des BIP.

dk/ul (rtr, dpa, Berenberg Bank, ifo, DIHK)