1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
GesellschaftDeutschland

Deutschland feiert 1700 Jahre jüdisches Leben

Shani Rozanes
21. Februar 2021

Nach dem Holocaust schien es eigentlich undenkbar, dass noch einmal Juden in Deutschland leben würden. Zum Auftakt des Jubiläumsjahres blickt die DW auf die wichtigsten Entwicklungen der Nachkriegszeit.

https://p.dw.com/p/3pWzF
Deutschland Mann mit Kippa
Bild: picture-alliance/dpa/F. Rumpenhorst

Mehr als 200.000 Menschen zählt die jüdische Gemeinde in Deutschland heutzutage und ist gleichzeitig die einzige wachsende jüdische Gemeinschaft in Europa - eine fast unglaubliche Erfolgsgeschichte, angesichts der Ermordung fast aller deutschen Juden und Jüdinnen. Die steigenden Gemeindezahlen sind auch deshalb bemerkenswert, weil es 1945 für die allermeisten Juden undenkbar schien, in dem Land, von dem der Genozid an sechs Millionen europäischen Juden ausging, die verlorenen Gemeinden wieder aufzubauen.

Die Alliierten befreiten mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs etwa 15.000 deutsche Juden und Jüdinnen. Die meisten hatten in Verstecken, andere die Konzentrationslager überlebt. Viele, die sich entschieden, in Deutschland zu bleiben, hatten nicht-jüdische Ehepartner oder Eltern. 

Der deutsch-jüdische Journalist Karl Marx - nicht zu verwechseln mit dem berühmten Philosophen und Ökonomen - gehörte zu den ersten deutschen Juden, die ins Land zurückkehrten. Den Krieg hatte Marx im Exil verbracht. Doch seine Entscheidung zur Rückkehr lastete auf ihm. Später erinnerte er sich, wie er 1946 die Grenze zur britischen-besetzten Zone überquerte und sich selbst fragte: "Wie kann ich nur, nach allem was passiert ist, als Jude in Deutschland leben?"

Eine Gruppe von Erwachsenen und Kindern sitzt und steht um einen Tisch mit einem Chanukka-Leuchter im Nachkriegs-Camp Bergen Belsen
Eine Chanukka-Feier nach dem Krieg in einem Auffanglager nahe des ehemaligen Konzentrationslagers Bergen-BelsenBild: Ndr/Wiener Library/dpa/picture-alliance

"Nie wieder auf dem blutbefleckten Boden Deutschlands niederlassen"

Die Entscheidung Marxs und einiger tausend anderer Idealisten wurde sowohl innerhalb wie auch außerhalb der jüdischen Gemeinde von vielen in Frage gestellt. Der Jüdische Weltkongress trat im Juli 1948 erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg zusammen und gab eine deutliche Resolution heraus, in der er sprach von der "Entschlossenheit des jüdischen Volkes, sich nie wieder auf dem blutbefleckten Boden Deutschlands niederzulassen".

Die Gründe, warum sich trotz der Ablehnung der internationalen jüdischen Gemeinschaft, einige in Deutschland niederließen, waren vielfältig, sagt Anthony Kauders, Historiker an der britischen Keele Universität: "Manche hatten mit der Hilfe anderer Deutscher überlebt, und sie weigerten sich, alle Deutschen als gleichwertig schuldig anzusehen. Andere waren zu alt oder zu gebrechlich, um zu emigrieren."

Wiederaufbau deutschen Judentums gegen alle Widerstände

Die Bemühungen, jüdische Gemeinden wiederaufzubauen, begannen unmittelbar nach Kriegsende. Bis 1948 gab es wieder mehr als 100 jüdische Gemeinden über ganz Deutschland verteilt. Sie bestanden aus zwei sehr unterschiedlichen Gruppen: Einerseits gab es die deutschen Juden und Jüdinnen, die meisten von ihnen vor dem Krieg hochgradig assimiliert und eingebunden in ihre deutsche Umgebung. Die andere Gruppe: Tausende vertriebene jüdische Flüchtlinge aus osteuropäischen Ländern, die sich unfreiwillig in Deutschland wiederfanden. Sie hatten große Schwierigkeiten, ihren Lebensunterhalt zu sichern, da sie der deutschen Sprache kaum mächtig waren.

Erwachsene und Kinder mit Bündeln stehen gedrängt, einige schauen in die Kamera, es sind jüdische Passagiere eines Schiffes, die 1947 nach Palästina einwandern wollten, aber zurück nach Lübeck gebracht wurden
1947: Diese Juden wurden zurück nach Lübeck geschickt, nachdem die Häfen im Mandatsgebiet Palästina geschlossen wurdenBild: Courtesy Everett Collection/picture alliance

Über 90 Prozent der jüdischen Flüchtlinge, die nach Deutschland kamen, verließen das Land innerhalb der nächsten drei bis vier Jahre, überwiegend gingen sie in die USA oder in das neugegründete Israel. Nur etwa 15.000 blieben in Deutschland. 

Viele der osteuropäischen Juden, die blieben, erhielten schließlich die deutsche Staatsbürgerschaft. Sie waren neu im Land und stützten sich auf ihre Gemeinschaft, was ihre religiösen, kulturellen und sozialen Bedürfnisse betraf. "Sie führten ein sehr zurückgezogenes Leben", sagt Kauders. "In den 1950er und 60er Jahren kannte man als jüdisches Mitglied einer Gemeinde nur andere Juden, man kam nicht wirklich mit anderen zusammen."

Gründung des Zentralrats der Juden

Im Juli 1950 schlossen sich die verschiedenen Gemeinden zusammen und gründeten einen Dachverband, der sie vertrat: den Zentralrat der Juden in Deutschland.

Die Beharrlichkeit der deutsch-jüdischen Gemeinschaft führte zu einer pragmatischen Kooperation mit internationalen jüdischen Institutionen und schließlich dazu, dass der deutsche Zentralrat Vollmitglied des Jüdischen Weltkongresses wurde.

Ein Porträt von Heinz Galinski, dem ersten Vorsitzenden des Zentralrats der Juden, er schaut nachdenklich durch seine Brille zum Betrachter
Heinz Galinski war der erste Vorsitzende des Zentralrats der Juden und hatte mehrere Konzentrationslager überlebtBild: picture-alliance / ZB

Unterdessen blieb der Antisemitismus in Deutschland ein Problem. Ein Bericht von 1946, der von der US-Armee in Umlauf gebracht wurde, fand heraus, dass 18 Prozent der Deutschen noch immer "radikale Antisemiten" waren, 21 Prozent Antisemiten und weitere 22 Prozent "moderate Rassisten". Eine Erhebung aus dem Jahr 1947 stellte fest, dass mehr als ein Drittel der Deutschen es befürworten würde, wenn es keine Juden in Deutschland gäbe.

Diese Atmosphäre veränderte sich, als die westdeutsche Regierung sich klar gegen Antisemitismus positionierte, sagt Historiker Kauders: "Zur Abwechslung kämpfte die Regierung offiziell dagegen und das macht natürlich den Unterschied. Das ist etwas, was [die Juden] in Deutschland oder den osteuropäischen Ländern, aus denen sie stammten, vorher nicht erlebt hatten. Das gab Juden in Deutschland ein Gefühl der Sicherheit."

Die beiden deutschen Staaten

Zwei deutsche Staaten waren aus den Trümmern des Dritten Reiches hervorgegangen: Die Deutsche Demokratische Republik (DDR), Teil des sowjetischen Ostblocks, und die westlich orientierte Bundesrepublik Deutschland (BRD).

Jüdisches Erbe am Rhein

Viele der politisch idealistischen und deutschstämmigen Juden zog es zu Beginn in den Osten des Landes, wo die bekannteren Juden in den Jahren nach dem Krieg lebten, wie die berühmte Schriftstellerin, Jüdin und Kommunistin Anna Seghers. "Niemand kam nach Ostdeutschland, um als Jude dort zu leben - sie wollten dort als Kommunisten leben", sagt die Soziologin und Autorin Irene Runge, die selbst 1949 als junges Mädchen mit ihren Eltern aus den USA nach Deutschland zog: "Sie unterdrückten alles Jüdische in sich."

Runge sagt, das sei bei vielen Juden in der ehemaligen DDR der Fall gewesen: "Ich denke, es war die einzige Art und Weise, dort zu leben. Man musste sich auf das politische Ziel fokussieren. Die Haltung war: 'Wir werden es nicht zulassen, dass die Deutschen alleine in diesem Land bleiben, wir werden es zu einem besseren Staat machen als je zuvor.'"

Auf dem Papier existierte so gut wie kein jüdisches Leben in der DDR. In den 1950er Jahren gab es nur 1500 registrierte Gemeindemitglieder.

Israel als Überlebensgarantie

Für die BRD markierte die Aufnahme der offiziellen diplomatischen Beziehungen mit Israel im Jahr 1965 einen wichtigen Schritt vorwärts. Die deutsch-jüdischen Gemeinschaften machten es sich zur Aufgabe, den Austausch der Menschen in beiden Staaten zu fördern. "Für deutsche Juden, mehr als für andere Juden, wurde Israel wegen des Holocausts sehr wichtig. Es gab immer die Idee des 'Lebens auf gepackten Koffern', was bedeutete: Wenn die Dinge zu schlimm werden, gehen wir weg", erläutert Kauders.

Dani Kranz: "Deutschland ist eine schwierige Heimat"

Inzwischen war eine zweite und dritte Generation herangewachsen. Einige verließen Deutschland in Richtung Israel und anderer Länder, viele aber blieben. "In den 1980er Jahren bildet sich dann eine junge Generation heraus, die genug von der Mentalität der Älteren hatte, Deutschland nur als eine Übergangslösung anzusehen", sagt Kauders: "Diese jüngere Generation ist viel lauter und daran interessiert, offen und nicht hinter verschlossenen Türen für jüdische Rechte zu kämpfen."

Kontingentflüchtlinge brachten die Wendung

Zu dieser Nach-Holocaust-Generation gesellten sich neue Einwanderer aus Polen, der Tschechoslowakei, Israel und dem Iran. Synagogen wurden gebaut und neue Schulen eröffnet. Es entwickelte sich ein religiöser Pluralismus, Gemeinden bildeten und erweiterten sich. Dennoch überstieg die Zahl der registrierten Mitglieder der jüdischen Synagogen und Religionsgemeinschaften vorerst nie die Zahl von 30.000.

Die bedeutendste Veränderung trat mit der Auflösung der Sowjetunion Ende 1991 ein. Nach der Öffnung der Grenzen zwischen Ost und West wanderten fast 220.000 Juden aus der ehemaligen Sowjetunion als  sogenannte Kontingentflüchtlinge in das wiedervereinigte Deutschland ein. Fast über Nacht bildeten sich neue Gemeinden, alte vervielfachten sich. Überall entstanden Gemeindezentren, Schulen und Synagogen. 

Der Zustrom der "russischen Juden" belebte stagnierende Gemeinden und bewahrte sie vor dem demografischen Kollaps. Aber ihre Integration stellte auch eine große Herausforderung dar, da die meisten der Neuankömmlinge viel säkularer waren, als die lokalen traditionellen Gemeinden. "Ihre Ankunft veränderte alles", erinnert sich die Soziologin Runge. "Sie wurden zum jüdischen Leben in Deutschland."

Zahlreiche Männer, die meisten tragen Kippa, sitzen 1993 in der Synagoge der Jüdischen Gemeinde Leipzig
Mit der Einwanderung sowjetischer Juden gab es eine Wiederbelebung der Gemeinden wie hier in LeipzigBild: Jan-Peter Kasper/ZB/picture-alliance

Heute bilden die aus der Sowjetunion stammenden Juden und ihre Nachkommen die überwältigende Mehrheit der deutschen Juden - nach manchen Schätzungen bis zu 90 Prozent der Gemeindemitglieder. "Die Ironie ist, dass sie sich nie für die Debatten interessierten, die die hiesige Gemeinde beschäftigten, für die das jüdische Leben in Deutschland immer komplex und problematisch gewesen war. Sie waren eher pragmatisch und sicherlich weniger Schuld-getrieben, als jene, die nach der Shoah das jüdische Leben wieder aufgebaut hatten", sagt Historiker Kauders. 

Eine neue Generation

Heute scheinen ähnliche Motive Israelis und Juden aus westlichen Ländern wie den USA, Kanada, Argentinien und Großbritannien dazu zu bewegen, sich in Deutschland - und insbesondere in Berlin - niederzulassen.

Schätzungsweise 15.000 bis 20.000 junge, hochgebildete, säkulare, politisch links-gerichtete Israelis sind in den letzten zwei Jahrzehnten nach Deutschland gekommen. Viele von ihnen sind mit Holocaust-Überlebenden verwandt. Einige haben über ihre Eltern und Großeltern die Staatsbürgerschaft eines EU-Staates, was ihnen das Ankommen in Deutschland erleichtert.

Doch der Schatten des Antisemitismus ist noch längst nicht verschwunden. Kurz vor den in dieser Woche geplanten Veranstaltungen zum 1700-jährigen Bestehen jüdischen Lebens in Deutschland, hat ein neuer Polizeibericht einen sprunghaften Anstieg antisemitischer Hasskriminalität aufgedeckt, mit über 2275 Vorfällen im Jahr 2020.

Dass es heute Juden gibt, die nach Deutschland ziehen, deren eigene Großeltern den Holocaust überlebt haben und geflohen sind, sei dennoch ein vollkommener historischer Umschwung, sagt Historiker Anthony Kauders.

"Die Tatsache, dass es für Israelis heute cool ist, in Berlin zu sein, ohne sich schuldig zu fühlen, zeigt, wie pluralistisch die israelische und auch die deutsche Gesellschaft geworden ist. In diesem Sinne ist die Nachkriegszeit beendet."