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Deutschland: Ist der Schulsport noch zu retten?

16. Januar 2024

Die Situation des Sportunterrichts an deutschen Schulen ist erschreckend: Lehrermangel, marode Turnhallen, Unterrichtsausfall. Kinder bewegen sich immer weniger. Immerhin: Die Leichtathletik steuert dagegen.

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Eine beschädigte Sporthalle, in der Kinder spielen
Viele Sporthallen in Deutschland sind beschädigt oder sogar ganz geschlossenBild: Uwe Anspach/dpa/picture-alliance

Die Situation ist nicht neu: Der deutsche Schulsport steckt seit einigen Jahren in einer Krise. Es fehlen qualifizierte Lehrkräfte, ausreichend funktionsfähige Sporthallen, und zu viele Unterrichtsstunden fallen einfach aus. Von den Schulministerien vorgeschriebene Lehrpläne sind aufgrund der aktuellen Situation kaum noch umzusetzen. Laut einem Bericht des deutschen Fernsehsenders ARD ist in Berlin jede vierte Sportstätte beschädigt, 57 Sportstätten in der Hauptstadt sind sogar komplett gesperrt.

Im Westen Deutschlands sieht es ähnlich aus: Es gibt 18 Schulen in Köln ohne Sporthalle. Von den insgesamt 283 Sporthallen in der Stadt ist fast jede sechste gesperrt. Das führt dazu, dass weniger Sport in Schulen unterrichtet wird und ganze Stunden sogar regelmäßig ausfallen müssen. Allein in Berlin wäre rund eine Milliarde Euro nötig, um die Schwimmbäder, Turnhallen und Sportplätze zu sanieren. Bundesweit würde es sogar 31 Milliarden Euro kosten, den Verfall zu stoppen.

Kristof Wilke: "Sportlehrerinnen und -lehrer werden belächelt"

Vor allem in den Grundschulen ist die Situation dramatisch - und das hat Folgen. "Der Schulsport hat ein Problem, weil im Grundschulbereich mindestens die Hälfte des Unterrichts fachfremd erteilt wird", erklärt Dominic Ullrich von der Deutschen Schulsport-Stiftung im DW-Interview. "Wenn Schulsport nicht qualifiziert vermittelt wird, dann besteht die Gefahr, dass viele zentrale Dinge, wie persönliche und soziale Kompetenzen, Fairness oder Respekt den Kindern eben nicht vermittelt werden können."

Grundsätzlich, so Ullrich, sei Sport ein Fach, bei dem von der Politik nicht so genau hingeschaut werde wie bei Mathematik oder Englisch. Sportlehrerin Julia Acar vom Mons-Tabor-Gymnasium in Rheinland-Pfalz wünscht sich im DW-Gespräch ebenfalls mehr Aufmerksamkeit für ihr Unterrichtsfach. "Es wäre schön, wenn Sport mehr in den Fokus der Ministerien rücken würde", sagt sie.

Kristof Wilke als aktiver Ruderer im Jahr 2015
Ex-Leistungssportler Kristof Wilke versucht heute als Lehrer, Kindern die Freude am Sport und der Bewegung zu vermittelnBild: Maja Hitij/dpa/picture alliance

Auch Kristof Wilke bemängelt die fehlende Lobby für das Unterrichtsfach Sport in der Öffentlichkeit. Er war 2012 Olympiasieger im Rudern mit dem Deutschland-Achter und ist heute Lehrer. Nach seinem Karriereende als Leistungssportler beendete Wilke sein Lehramtsstudium und arbeitet nun seit 2015 als Sport- und Biologie-Lehrer an einem Gymnasium in Dortmund im bevölkerungsreichsten deutschen Bundesland Nordrhein-Westfalen.

"Sport ist an den meisten Schulen immer noch ein Randfach, was wenig Beachtung findet und nach seiner Rechtfertigung sucht", sagt er der DW. "Viele Kolleginnen und Kollegen, aber auch Eltern, belächeln die Sportlehrerinnen und -lehrer."

Kein Bezug mehr zum eigenen Körper

Das Ergebnis der jahrelangen Vernachlässigung sind mangelnde Sozialkompetenz, geringe Frustrationstoleranz und motorische Defizite bei Kindern und Jugendlichen. "Die Schülerinnen und Schüler haben kaum noch einen Bezug zu ihrem Körper. Viele Kinder können weder Rückwärtslaufen, einen Unterarmstütz oder eine Rolle vorwärts", sagt Julia Acar. Kinder seien heutzutage öfter krank oder verletzt - da sind sich Acar und Wilke einig. Dennoch ist der Schulsport nicht alleine für die momentane Situation verantwortlich.

Der Lehrauftrag heißt "Erziehung durch und zum Sport" und das bedeutet, dass der "Schulsport den Kindern Impulse geben und neugierig machen soll. Und das in Zusammenarbeit mit Sportvereinen, so dass sich die Kinder dann auch in der schulfreien Zeit mehr bewegen", so Ullrich.

Eine Schülerin nimmt am Sportunterricht teil und springt auf einem Sportplatz
Durch Sportunterricht sollen Kinder an Grundschulen für Bewegung begeistert werdenBild: Günter Blaszczyk/WAZ/IMAGO

Für Wilke ist es schwer mit anzusehen, wie sich die Kinder entwickeln. Der ehemalige Leistungssportler hat mit der Situation an den Schulen besonders zu kämpfen. "Ich bin mir meiner Rolle bewusst, dass ich kein Leistungstrainer bin. Ich bin Sportlehrer und versuche den Kindern Spaß an der Bewegung und Bewegungsfertigkeiten zu vermitteln", sagt er. "Mir tut es aber weh, zu sehen, wie wenig Anstrengungsbereitschaft und Leistungswille mittlerweile bei einem Großteil der Kinder vorhanden ist. Der Wille zu Üben oder sich Dinge zu erarbeiten - der fehlt mir total."

Doch auch die Eltern seien Teil des Problems, sagt der Olympiasieger. Teilweise werde die Unsportlichkeit zu Hause vorgelebt und Kinder würden sehr schnell Entschuldigungen bekommen, um nicht am Schulsport teilnehmen zu müssen. "Für viele Eltern ist das Fach Sport mehr ein erweitertes Freizeitangebot an Schulen und wird nicht ernsthaft als Unterricht angesehen", sagt Wilke der DW.

Veränderungen in der Leichtathletik

Dominic Ullrich ist neben seiner Lehrertätigkeit auch beim Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) tätig, und bekleidet den Posten des Vizepräsidenten, der für die Jugend zuständig ist. Um den Bewegungsmangel bei Kindern und Jugendlichen zu beheben, hat er in den vergangenen Jahren versucht, den Sportunterricht an Schulen auf neue Beine zu stellen.

Schon 2013 wurde das neue "Wettkampfsystem Kinderleichtathletik" des DLV bundesweit verbindlich für Vereine eingeführt und ausdrücklich für Schulen mitgedacht. Hierzu wurden durch den DLV viele Qualifizierungsangebote für Hochschulen und Schulen gemacht, um Leichtathletik Inhalte in die Breite - Vereine und Schulen - zu bekommen. "Ziel ist, die Disziplinvielfalt der späteren Jugend-Leichtathletik auch schon für Kinder anzubieten", erklärt Ullrich im DW-Interview. Statt wie zuvor nur im klassischen Dreikampf auf 50-Meter-Sprint, Schlagballwurf und Weitsprung, gibt es nun Wettbewerbe auch in Mehrfachsprüngen, Hürdensprints, Stoßen und Stabspringen.

Kinder beim Hürdenlauf
Kindgerechter Zugang zur Leichtathletik - erst kommt der Spaß, dann spielen die Leistungen eine RolleBild: Walter G. Allgöwer/JOKER/picture alliance

"Alters- und entwicklungsgemäß sind Regeln entwickelt worden, sodass für alle ein Zugang zur Leichtathletik geschaffen wurde", sagt Ullrich. "Alles mit einer sogenannten 'Spezialisierungsbremse', weil die Kinder in Mehrkämpfen und vor allem Teamwettbewerben antreten sollen. Damit ist die Motivation besonders hoch und die Bindung an die Leichtathletik wird verstärkt."

Kindgemäßer Zugang

Die Wettbewerbe finden nicht streng nach internationalen Wettkampfregeln statt, sondern können innerhalb des Regelrahmens des DLV flexibel gestaltet werden. "Man kann zum Beispiel mit unterschiedlichen Sportgeräten arbeiten", erklärt Ullrich. "Es muss nicht ein Schlagball sein, man kann zum Beispiel auch mit einer Wurf-Rakete werfen, mit Tennisbällen oder bei Drehwürfen auch mit Fahrradreifen. Es geht einfach darum, dass ein kindgemäßer Zugang möglich ist und es vor allem auch überall durchführbar ist."

Durch die Veränderungen - vor allem in den Grundschulen und Vereinen - sind bereits erste positive Ergebnisse zu verzeichnen. "Es gibt Schulen und Landesverbände, die das neue System von Beginn an konsequent umgesetzt haben und diese Kinder profitieren nun davon", sagt Ullrich. "Man sieht, dass es Bundesländer gibt, die einen besonders hohen Anteil an Kaderathleten haben. Hessen ist zum Beispiel aktuell sehr erfolgreich, was die Leichtathletik angeht." Und das habe, so Ullrich, auch mit dem kindgerechten Zugang zu Leistung zu tun, den man durch die Veränderungen eingeführt habe.