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Gesellschaft

Die unerhörte Nacktheit

Danhong Zhang
14. Dezember 2018

Nackte Haut gilt in China als Tabu. Das ist heute so, und es war in den 1980er-Jahren nicht anders. Das hatte zur Folge, dass sich unzensierte deutsche Filme ungeahnter Beliebtheit erfreuten, erinnert sich Zhang Danhong.

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Zhang Danhong
Bild: Volker Glasow

Die alten Chinesen wussten ihre Sexualität auszuleben. Immer im Frühjahr trafen Männer und Frauen zusammen, feierten Feste und hatten Freude aneinander. 仲春之月,男女自由相会,尽情欢娱。Bis im 5. Jahrhundert vor Christus der Spielverderber Konfuzius auftrat. Er regelte die zwischenmenschlichen Beziehungen, wonach sich Frauen unterzuordnen haben: den Vätern, den Brüdern und später den Ehemännern. Ein Jahrhundert später legte Mengzi, der bedeutendste Nachfolger von Konfuzius, den Grundstein für die strikte Geschlechtertrennung. Nach seiner Lehre dürfen Männer und Frauen einander nicht einmal Geschenke überreichen, geschweige denn Körperkontakte wie Händeschütteln pflegen. Meine Oma runzelte jedes Mal die Stirn und zitierte Mengzi, wenn ich am Wochenende von der Uni nach Hause kam und meinem Bruder um den Hals fiel.

Filmszene Die Blechtrommel von Volker Schlöndorff
"Die Blechtrommel" von Günter Grass in der Verfilmung von Volker Schlöndorff: Nicht allein die Nackt-Szenen irritiertenBild: Imago/AGD

Die konfuzianischen Werte wirken selbst noch unter der Herrschaft der Kommunistischen Partei nach. Beispielsweise stellen Nackt-Szenen bis heute immer noch die rote Linie der Filmzensur dar. Erlaubt sind nur Andeutungen. Zu meiner Studienzeit wurden die ersten westlichen Filme in chinesischen Kinos gezeigt - ins Chinesische übersetzt und natürlich ohne nackte Haut. Unsere Fakultätsleitung war in dieser Hinsicht deutlich entspannter: Die deutschen Filme, die einem besseren Hörverständnis für die deutsche Sprache dienen sollten, wurden stets unzensiert vorgeführt.

Ein Ansturm auf deutsche Kinofilme

In Windeseile hat sich das herumgesprochen. Zu unseren Filmabenden in einem schnell umfunktionierten Hörsaal strömten Deutschlernende aus allen Hochschulen Pekings, Studenten von anderen Fakultäten der Peking-Universität und sonstige Schaulustige. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Da nahmen Menschen eine zweistündige Fahrt auf sich, schauten sich meist im Stehen für weitere zwei Stunden einen Film in einer ihnen unverständlichen Sprache und mit irrsinnig langen Dialogen an, nur um zwei (im günstigsten Fall fünf) Szenen mit unbekleideten Menschen zu erhaschen - vorausgesetzt, man war vorher bei den Dialogen nicht eingeschlafen. Erschwerend kommt hinzu, dass der Hang zum Naturalismus unter den deutschen Regisseuren oft dazu führt, dass diese von den chinesischen Zuschauern lang ersehnten Bilder weder mit der Ästhetik noch mit der Erotik zu tun haben. Bei "Die Blechtrommel" zum Beispiel empfand ich die entsprechenden Szenen eher abstoßend und Ekel erregend.

Film-Szene Die Blechtrommel
Nicht nur der Blechtrommler Oskar Matzerath interessierte sich für Marias nackten Körper - auch meine KommilitonenBild: picture-alliance/Everett Collection

Das tat der Schaulust meiner Kommilitonen keinen Abbruch. Die Filmspektakel mussten in immer größere Räume verlegt werden. Meine Neugierde galt einer anderen Frage: Warum hatte anscheinend nur unsere Fakultät Zugang zu den deutschen Produktionen? Ich fragte eine Germanistik-Studentin von einer anderen Universität in Peking. Ihre Antwort überraschte und amüsierte mich, denn bei ihnen lief es so: Die Dozenten schauten jeden neuen Film erst einmal alleine. Beim zweiten Mal schrieben sie die unsittlichen Stellen und die davor laufenden Szenen auf. Dann wurde mechanische Zensur geübt. Und erst bei sicherer Handhabe konnte der Film den Studenten gezeigt werden: Treffsicher wurden dann die bei der Zensur durchgefallenen Szenen durch ein Stück Papier verdeckt. Eine solche Vorführung war meist purer Stress für die Dozenten und löste bei den Studenten Wut und Enttäuschung aus. Da wusste ich meine Universität noch mehr zu schätzen, die uns Mündigkeit und Souveränität zugestanden hat.

Mit einer anderen Art von Nacktheit tat ich mich allerdings schwer: Damals waren die wenigsten Wohnungen in Peking mit einer Dusche ausgestattet, so dass die Professoren, die fast alle eine Wohnung auf dem Unigelände oder in unmittelbarer Nähe der Universität zugewiesen bekamen, mit uns Studenten zusammen eine riesige Badeanstalt teilten. Genauso wenig, wie ich heute beispielsweise Frau Merkel auf der Toilette begegnen möchte, wollte ich damals eine meiner Professorinnen auf einmal splitterfasernackt sehen. Zwar heißt es, dass wir vor Gott alle gleich seien. Doch bei manchen möchte ich einfach nicht wissen, wie Gott sie erschaffen hat.

Trauma der besonderen Art

Es hat erstaunlich lange gedauert, bis meine Horrorvision irgendwann doch Wirklichkeit wurde: Eines Nachmittags traf ich in der Gemeinschaftsdusche die Parteisekretärin der Fakultät - ohne Kleidung, ohne Brille. Gott sei Dank war sie so kurzsichtig, dass sie ihre Umgebung gar nicht wahrnahm. Seitdem hatte ich nur noch dieses Bild vor mir - egal, wie autoritär sie auftrat.

Nach diesem Trauma flüchtete ich unter die Dusche einer in der Nähe liegenden Badeanstalt und lernte dort das Neueste aus dem dekadenten Westen kennen - die Sauna (natürlich nach den Geschlechtern getrennt). Die Kapitalisten lassen es sich ganz schön gut gehen, war mein erster Gedanke nach dem ersten Saunabesuch. Seitdem verbrachte ich mit meiner Freundin ganze Nachmittage dort. Der Ruheraum wurde zu meinem Lieblingslernort.

Deutschland Sauna-Besuch
Solche Szenen sind in China auf absehbare Zeit undenkbarBild: picture-alliance/ dpa/B. Weißbrod

Dass ich mir diesen Luxus leisten konnte, lag daran, dass ich im vierten Studienjahr anfing, am von der Uni angebotenen Fortbildungsprogramm für die deutsche Sprache mitzuwirken und so zum ersten Mal in meinem Leben Geld zu verdienen. Von meinen Deutschkenntnissen werde ich gut leben können, verkündete ich zu Hause voller Stolz. 

Zhang Danhong ist in Peking geboren und lebt seit 30 Jahren in Deutschland. In der Serie "Deutschsein ist kein Zuckerschlecken" schreibt sie einmal wöchentlich über ihre ersten Kontakte mit der deutschen Sprache und ihre Integration in Deutschland.