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Die AKP und der Geist von Gezi

Daniel Heinrich1. November 2015

Erst im Juni wurde in der Türkei gewählt, nun schon wieder: Doch auch diesmal dürfte die regierende AKP nicht mit dem Ergebnis zufrieden sein. Denn die Gezi-Proteste wirken noch immer nach. Von Daniel Heinrich, Istanbul.

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Türkische Regierungsgegner erinnern an Gezi-Proteste (Foto: Reuters)
Demonstration anlässlich des Jahrestages der Gezi-ProtesteBild: Reuters/M. Sezer

Ruhig und beschaulich liegt er heute da, der Gezi-Park gleich hinter dem zentralen Taksim-Platz in Istanbul. Was für ein Kontrast zu den Bildern aus dem Jahr 2013, als schwerbewaffnete Polizisten Tränengas und Wasserwerfer gegen die meist friedlichen Demonstranten einsetzten. Als Widerstand gegen ein geplantes Einkaufszentrum gedacht, weiteten sich die Proteste schnell zu einem landesweiten Sturm für Demokratie und Menschenrechte aus. Fast 3,5 Millionen Menschen nahmen daran teil.

Gezi-Park in Istanbul (Foto: DW/D. Heinrich)
Ruhepunkt: der Gezi-ParkBild: DW/D. Heinrich

Özge Özdücen war eine derjenigen, die damals ganz vorne dabei waren. Im Gespräch mit der Deutschen Welle erinnert sie sich an die aufgeheizte Stimmung: "Die AKP wurde einfach immer repressiver. Gerade hatte sie die Abtreibung verboten, auf den Straßen durfte man keinen Alkohol mehr trinken und Küssen war auch nicht mehr erlaubt", so die heute 32-Jährige: "Gezi war unser Versuch, mehr Demokratie ins Land zu bringen. Zum ersten Mal nach dem Militärputsch im Jahr 1980."

Veränderung für das gesamte Land

Laut Alexander Geiger von der Friedrich Ebert Stiftung hat die Gezi-Bewegung bis heute eine große Bedeutung für die politische Kultur der Türkei: "Gezi hat der gesamten Zivilgesellschaft ein neues Selbstbewusstsein gegeben", so der 33-Jährige gegenüber der DW. "Vor allem viele junge Menschen, die sich vorher eher als apolitisch eingestuft hätten, haben angefangen, im Freundes-, im Familienkreis politisch zu diskutieren und sich zu engagieren."

Özge Özdücen (Foto: privat)
Özge Özdücen (Bildmitte) während der Gezi-Proteste 2013Bild: Privat

Insbesondere die Heterogenität der Bewegung ist für Özge Özdücen bis heute ein kleines Wunder: "Leute, die davor nichts miteinander zu tun hatten, sind zusammengekommen. Kurden, Säkulare, gläubige Muslime, die die neoliberale Politik der AKP satt hatten, und linke Atheisten. Wir alle haben durch Gezi realisiert, dass wir in einem Boot sitzen."

Erfolg der HDP als Ergebnis

Der Zusammenschluss der unterschiedlichen Gruppierungen ist laut Gareth Jenkins bis heute einer der Hauptgründe für den großen Erfolg der pro-kurdischen HDP: "Mittelfristig führte dies dazu, dass sich die öffentliche Sichtweise über die HDP änderte. Das lag vor allem daran, dass liberale Türken einen großen Anteil an der verbliebenen freien Presse in der Türkei haben. Und diese änderte ihre Berichterstattung über die HDP", so Jenkins im DW-Gespräch.

Selahattin Demirtas (Foto: Reuters)
Beteiligung an der Regierung zweifelhaft: HDP-Vorsitzender DemirtasBild: Reuters/S. Kayar

Mit 13 Prozent der Stimmen war der HDP als erster kurdischer Partei im Juni der Einzug ins Parlament gelungen. Damit verhinderte sie eine absolute Mehrheit der Regierungspartei AKP. Der Traum des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan, eine Präsidialdemokratie zu errichten, fiel ins Wasser, Koalitionsverhandlungen scheiterten, Neuwahlen mussten her.

Nichts Neues an den Urnen

Doch auch nach den Wahlen an diesem Sonntag (01.11.2015) wird es wohl Koalitionsverhandlungen geben müssen. Der Grund liegt laut Kristian Brakel von der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul am unveränderten Wahlverhalten der Türken: "Die Wähler sind im großen Maße Stammwähler. Nach einer aktuellen Umfrage werden über neunzig Prozent der Wählenden der gleichen Partei ihre Stimme geben wie im Juni."

Die AKP würde demnach bei knapp unter 40 Prozent landen, die CHP bei etwa 25 Prozent und die HDP wieder bei rund 13 Prozent. Die nationalistische MHP käme auf etwa 17 Prozent. Aufgrund der ungewöhnlich hohen Sperrklausel von zehn Prozent dürfte es keiner weiteren Partei gelingen, ins Parlament einzuziehen.

Recep Tayyip Erdogan (Foto: picture alliance)
Traum von der Präsidialdemokratie gescheitert: Staatschef ErdoganBild: picture-alliance/Anadolu Agency/Y. Cabuk

Sibel Yigitalp von der HDP meint, die Zeit für eine Alleinregierung der AKP sei abgelaufen. Im DW-Gespräch sagt sie: "Wir sind offen für eine Koalition. Die Regierung will das Land doch nur weiter spalten. Nur wenn man seine Arme für alle öffnet, ist man wirklich bereit für Demokratie."

Schon wieder Neuwahlen?

Ob die HDP jedoch in die Regierung kommt, ist höchst zweifelhaft. Für Kristian Brakel besteht die wahrscheinlichste Regierungskonstellation aus der kemalistischen CHP und der AKP: "Die CHP will zurück in die Regierung und wäre dafür auch bereit, Kompromisse zu machen. Für die AKP auf der anderen Seite gäbe es mit diesem Partner am ehesten die Möglichkeit, die militärische Lage mittelfristig zu beruhigen. Das Hauptproblem ist aber, dass die AKP eigentlich gar nicht koalieren will", so Brakel im Interview mit der DW.

Die AKP macht öffentlich kaum einen Hehl aus ihrer Ablehnung einer Koalition. Diese Woche erst hatte der Co-Vorsitzende der AKP, Mehmet Ali Sahin, bestätigt, dass man über weitere Neuwahlen nachdenken müsse, falls die Wahlergebnisse ähnlich ausfielen wie beim letzten Mal.

Trotz des Alleinherrschaftsanspruchs der AKP ist Özge Özdücen dennoch hoffnungsfroh, was die Zukunft ihres Landes betrifft: "Der Pfad in Richtung Demokratie ist nicht einfach, aber die Gezi-Bewegung hat gezeigt, dass wir nicht alleine sind. Die Begeisterung um die HDP ist das erste sichtbare Zeichen. Wenn wir alle weiterhin zusammenstehen, können wir eine bessere Türkei erschaffen."