1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Corona: Verschwörung unterm Weihnachtsbaum

16. Dezember 2021

Ob Impfgegner, Verschwörungstheoretikerin oder Querdenker – man trifft sie nicht nur auf Demos, sondern vielleicht auch beim Familientreffen an Weihnachten. Was tun, wenn verschwörerische Ideen ausgepackt werden?

https://p.dw.com/p/44JgA
Ein Querdenker zeigt auf einer Demonstration in München ein T-Shirt mit der Aufschrift: "ungeimpft, unbeugsam, Friedensdenker, Demokrat."
Opa wünscht sich auch so ein T-Shirt zu Weihnachten? Vielleicht kann das Fest trotzdem friedlich verlaufen.Bild: Sachelle Babbar/ZUMA Press/picture alliance

Nicht alle, die sich bisher nicht haben impfen lassen, hängen Verschwörungserzählungen an. Manche haben noch immer große Bedenken, weil ein neuartiger Impfstoff in rasantem Tempo entwickelt wurde, weil viele Desinformationen kursieren und manch einer nicht weiß, was er wem glauben soll.

Diese Menschen sind meist offen für Aufklärung – vor allem, wenn eine vertraute Person Ordnung in das Chaos zu bringen versucht und die wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Impfung vermittelt. Was aber, wenn sachliche Argumente nicht mehr helfen, weil der Vater oder die Tante längst überzeugt sind, die Wahrheit zu kennen.

COVID-19 ist nicht so schlimm? Ruhig Blut!

Es klingt einfach, ist aber furchtbar schwer: Ruhe bewahren, selbst wenn Oma oder Onkel ihre Chip-in-der-Impfung-Theorie noch vor dem ersten Glühwein unter dem Weihnachtsbaum ausbreiten.

Ruhig und überlegt zu reden heißt nicht, unwissenschaftliche Behauptungen unwidersprochen stehen zu lassen. Wer allerdings schnell die Fassung verliert und schreit, wird sein Gegenüber kaum mehr erreichen – jedes weitere Wort ist für die Katz und Weihnachten ziemlich sicher im Eimer. 

Die Frage ist: Was möchte ich erreichen? Bei engen Verwandten und Freunden geht es schließlich um mehr als nur darum, einen Argumentationswettbewerb zu gewinnen. Wir lieben diese Menschen. Und wir fragen uns, was ist mit dir passiert? Warum glaubst du das?

Wer schreit, hört die Antworten eventuell nicht.

Emotionen vs. Fakten

Die Sozialpsychologin Pia Lamberty und die Autorin Katharina Nocun schreiben in ihrem Buch "Fake Facts" über verschiedene Gründe, weshalb sich Menschen zu Verschwörungserzählungen hingezogen fühlen. Enttäuschungen, Ängste und Überforderung gehören dazu.

Verschwörungserzählungen können diesen Menschen als Bewältigungsstrategie dienen, um sich nicht direkt mit den unangenehmen oder beschämenden Gefühlen beschäftigen zu müssen. Außerdem ist so schnell ein Verantwortlicher für das eigene Unglück gefunden: die Politiker, die Pharmakonzerne oder die vermeintlich gleichgeschalteten Medien. Das emotionale Defizit ist gleich viel besser erträglich.

"Mama, wie geht's dir eigentlich sonst so?" So oder so ähnlich könnte der Beginn eines Gesprächs über die hinter der Verschwörungsidee versteckte Gefühlslage des Familienmitglieds aussehen, sagt die Psychologin Sarah Kuhn. Sie forscht an der Universität Basel zu kognitiven Grundlagen starker Überzeugungen und beschäftigt sich mit Verschwörungserzählungen.

Eine FFP2-Maske liegt auf dem Boden. Darauf steht das durchgestrichene Wort "Nötigung" geschrieben.
Wenn Mama sich ständig genötigt und bevormundet fühlt, liegt das eigentliche Problem womöglich ganz woanders.Bild: Sachelle Babbar/ZUMA Press/picture alliance

"Menschen, die Verschwörungsideologien anhängen, glauben oft, sie seien im Besitz von exklusivem Wissen und erleben es als sinnstiftende Aufgabe, dieses Wissen zu verbreiten", sagt Kuhn. Dahinter könne sich der Wunsch nach werteorientiertem Handeln, aber auch ein Mangel an Selbstwert verbergen, der durch die Verschwörungserzählung aufwertet wird.

In einer solchen Situation haben sachliche Argumente kaum eine Chance. Opa, der mit Hilfe von Verschwörungserzählungen versucht, ein emotionales Loch zu stopfen, wird diese Strategie nicht so schnell aufgeben. Das Gespräch führt dann außerdem am Kern der Sache vorbei, weil nicht über die Wunde geredet wird, sondern nur über das Pflaster.

Fakten formulieren, Widersprüche aufzeigen

All das heißt nicht, dass die Idee von der gemeingefährlichen Impfung unbesprochen im Raum stehen bleiben muss. "Widersprüche in der Argumentation können durchaus aufgezeigt werden", sagt Kuhn. Wenn die Nebenwirkungen der Impfung besonders betont werden, warum dann nicht auch die Folgen einer COVID-19-Infektion?

Wichtig sei, so Kuhn, das Gegenüber nicht bloßzustellen und als dumm abzustempeln. Das rettet weder die Mutter aus dem Sumpf der Verschwörungsideologien noch das Weihnachtsfest. "Wie kannst du so einen Schwachsinn nur glauben?", hilft nicht.

Statt sich auf die kruden Erzählungen selbst zu fokussieren, schlägt Kuhn vor, die Fakten zu formulieren und zu wiederholen – möglichst neutral und ohne Abwertung der anderen Person.

Klare Kante gegen Antisemitismus

Viele Verschwörungserzählungen verwenden antisemitische Codes und Chiffren oder wurzeln direkt im Antisemitismus, schreiben Lamberty und Nocun in "Fake Facts". Wenn der Bruder von einer globalen Finanzelite anfängt, die überall die Strippen ziehe, dann ist es Zeit für ein deutliches Stopp-Signal. 

Deutschland | Querdenker Anti-Corona Demo in München
Die Einteilung der Welt in schwarz und weiß, in Gut und Böse kann ein erster Schritt in die Radikalisierung seinBild: Sachelle Babbar/ZUMA Press/picture alliance

"Marionettenspieler", "Strippenzieher" oder "Finanzelite" sind Codes, die häufig im Kontext antijüdischer Erzählungen genutzt werden. "Die Codes und Metaphern funktionieren wie eine Hundepfeife. Wer fähig ist, die Pfeife zu hören, decodiert und versteht, dass hier Judenhass verbreitet wird", heißt es in der Publikation "deconstruct antisemitsm" der Amadeu Antonio Stiftung.

"Nicht alle Verschwörungserzählungen sind automatisch antisemitisch. Aber stark vereinfachte Beschreibungen der Realität in 'die da oben' und 'wir hier unten' machen Erzählungen oft anschlussfähig für antisemitische Welterklärungsmodelle", halten Lamberty und Nocun in ihrem Buch fest.

Deshalb gilt es auch im engsten Familienkreis Zivilcourage zu beweisen und die Gefahr deutlich zu machen, die Verschwörungserzählungen bergen: Sie können Hass, Hetze und Antisemitismus befeuern.

Verzweifelt an Corona-Leugnern

Eigenes Empfinden kommunizieren

Die eigene Gefühlslage in Ich-Botschaften zu kommunizieren, gehört zum kleinen Einmaleins der Konfliktgespräche. Zwischen: "Ich fühle mich verletzt" und: "Du hast mich verletzt" besteht ein himmelweiter Unterschied. Letzteres ist ein klarer Vorwurf, der höchstwahrscheinlich Gegenwehr provoziert.

"Wichtig ist, das konkrete Verhalten oder die Aussage zu benennen, von der ich mich verletzt fühle", sagt Sarah Kuhn. Im Gegensatz zu Persönlichkeitsmerkmalen, lassen sich Verhalten und Aussagen verändern. Die Person hat so eine Chance, auf die Kritik zu reagieren, ohne sich als Mensch abgelehnt zu fühlen.

Pause von der Coronadiskussion

Es ist Weihnachten. Müssen wir da überhaupt über die Pandemie, den Impfstoff und Bill Gates sprechen? "Wenn sich ein Gespräch in diese Richtung entwickelt, sollte man kurz innehalten und sich fragen, ob man jetzt gerade die Ressourcen dafür hat", sagt Kuhn. 

Wenn die zwei Flaschen Glühwein ohnehin schon alle guten Vorsätze für ein vorbildliches Gespräch ertränkt haben, dann vielleicht lieber nicht. Kuhn schlägt ein Codewort vor, das zuvor gemeinsam festgelegt wird und allen Beteiligten signalisiert: Themenwechsel, jetzt! Eine andere Möglichkeit ist, schon im Voraus mit der Familie zu besprechen, das Corona unter dem Tannenbaum keinen Platz hat. Das ist total okay! Wir alle brauchen Pausen. 

Wir brauchen nicht nur Pausen vom Schrecklichen, wir brauchen außerdem auch mehr vom Schönen. "Positive gemeinsame Erlebnisse stärken die Beziehung und machen es Verschwörungserzählenden im Zweifel leichter, ihre Meinung doch noch zu ändern und zurückzukehren", sagt Kuhn.

In einem Artikel der Wochenzeitung DIE ZEIT beschreibt ein ehemaliger Anhänger von Verschwörungsideologien: "So haben mich am Ende nicht die verbissenen Argumente derer überzeugt, die mir beweisen wollten, dass ich irre. Sondern die beständigen Freundschaften mit Menschen, die meine seltsamen Ideen nicht teilten und in mir dennoch mehr sahen als einen Spinner."