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PolitikEuropa

Die dritte Corona-Welle überrollt die Türkei

Daniel Derya Bellut
3. April 2021

In fast keinem Land der Welt steigen die Corona-Infektionen so explosionsartig wie in der Türkei. Opposition und Ärzte geben der Regierung die Schuld, sie habe mehrfach fahrlässig gehandelt.

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Bild: DHA, Demirören Nachrichten Agentur

Wie in vielen Ländern der Welt stellt die dritte Corona-Welle auch die Türkei vor immense Herausforderungen. Seit ein paar Wochen steigt die Anzahl derjenigen, die sich mit dem Coronavirus infiziert haben, sprunghaft an. In der Türkei hat die Zahl der Neuinfektionen den vierten Tag in Folge einen Höchstwert erreicht. Am Freitagabend gab das Gesundheitsministerium eine Fallzahl von 42.308 Corona-Infizierten heraus. Damit lag die Zahl zum zweiten Mal hintereinander über der Marke von 40.000. Im europäischen Vergleich bei den Infektionszahlen liegt nur Frankreich vor der Türkei.

Trotz der Impfkampagne sind die Neuinfektionen nicht unter Kontrolle
Trotz der Impfkampagne sind die Neuinfektionen nicht unter KontrolleBild: Chris McGrath/Getty Images

Viele Kritiker machen die türkische Regierung für diese Entwicklung verantwortlich. Nachdem es durch strenge Maßnahmen erst gelang, die zweite Corona-Welle im Januar etwas unter Kontrolle zu bringen, folgten ab dem ersten März Lockerungen, die die türkische Regierung als "Normalisierungsprozess" bezeichnete: Cafés, Restaurants sowie Parteiveranstaltungen wurden wieder erlaubt. Die Entscheidung sollte sich rächen: Seither haben sich die offiziellen Corona-Infektionen ungefähr vervierfacht. Vor den Zeitpunkt der Lockerungen wurden nicht einmal 10.000 Corona-Fälle gemessen.

Türkei: Corona-Zahlen alarmieren

Exponentielles Wachstum - aber kaum Maßnahmen

Obwohl sich die Infektionskrankheit zurzeit rasant verbreitet, will die türkische Regierung nichts überstürzen. Zwar soll es in den türkischen Risiko-Gebieten wieder Ausgangssperren an Samstagen und Sonntagen geben. Aber erst zu Beginn des Ramadan-Monats, Mitte April, sollen die Ausgangsbeschränkungen auf die gesamte Türkei ausgeweitet werden. Der Fastenmonat der Muslime wird von zahlreichen Massenritualen, wie dem Fastenbrechen und gemeinsamen Gebeten begleitet.

Erst die Wirtschaft, dann die Pandemie?

Dr. Ali Ihsan Ökten (TTB)
Dr. Ali Ihsan Ökten (TTB)Bild: Privat

"Die schmerzhaften Folgen der sogenannten ´Normalisierung´ sind jetzt zu spüren", kritisiert der zweite Vorsitzende des Türkischen Ärztebundes (TTB) Ali Ihsan Ökten. Der Arzt mahnt, dass die Pandemiebekämpfung erschwert sei, weil man versuche, wichtige Geschäftsbereiche nicht einzuschränken. Die türkische Regierung hat sich seit Beginn der Pandemie zwischenzeitlich für lockere Corona-Maßnahmen entschieden, um der ohnehin kriselnden Wirtschaft nicht weiter zu schaden.

Auch der Leiter der Abteilung für Infektionskrankheiten an der Universität Ankara Prof. Ismail Balik kritisiert, dass die Regierung zu unentschlossen sei. "Die Corona-Maßnahmen haben im November und Dezember gut funktioniert, doch die mutierten Viren haben die Karten neu gemischt (...) Die Mutante macht es nötig, dass nicht nur Schließungen am Wochenende erfolgen, sondern (an Ramadan) alle Aktivitäten wie Nachbarschaftsbesuche und Massenversammlungen verhindert und streng kontrolliert werden".

Potentielle Superspreader-Events: Parteitage der AKP
Potentielle Superspreader-Events: Parteitage der AKPBild: Adem Altan/AFP/Getty Images

Superspreader-Events für die Wählerschaft?

Die Opposition kritisiert die türkische Regierung dafür, dass sie in der Corona-Bekämpfung eine Doppelmoral an den Tag lege. Während die Bevölkerung sich diversen Einschränkungen unterordnen muss, veranstaltete Präsident Recep Tayyip Erdogan mit seiner Partei, der islamisch-konservativen AKP, seit Januar zahlreiche lokale Parteitage, wonach an diesen Orten die Fallzahlen noch schneller gestiegen sind. Besonders der AKP-Parteitag in Istanbul vor ein paar Wochen wurde von der Opposition stark kritisiert: Tausende Anhänger standen bei der Veranstaltung dicht gedrängt und zum Teil ohne Masken. Obwohl die 16-Millionen-Metropole Istanbul kaum wie eine andere Stadt in der Türkei mit der Pandemie zu kämpfen hat. 

Im Juli letzten Jahres zelebrierte die türkische Regierung massenwirksam die Umwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee. In Istanbul kam es daraufhin zu Menschenansammlungen vor dem Wahrzeichen. Abstands- und Hygieneregeln, die von der Regierung normalerweise gepredigt werden, wurden kaum eingehalten. Rund 1000 Gläubige nahmen auch im Gebäude an der Zeremonie im Beisein des türkischen Präsidenten teil.

Die Regierung und das verspielte Vertrauen

Seit Beginn der Pandemie büßte die Regierung immer wieder Vertrauen in der türkischen Bevölkerung ein. Besonders der Türkische Ärztebund (TTB) rüttelte stets an der Glaubwürdigkeit der türkischen Regierung und ihrem Corona-Krisenmanagement. Oft wichen die Berechnungen der Ärzte stark von den offiziellen Zahlen des Gesundheitsministeriums ab. Ihre eigenen Erhebungen deuteten darauf hin, dass die Fallzahlen der Corona-Infizierten deutlich höher sein müssten.

Zunächst wehrte der türkische Präsident Erdogan sich gegen die Vorwürfe, indem er die Ärztekammer als Terrororganisation bezeichnete. Weil die Zweifel an den offiziellen Zahlen allerdings irgendwann so immens waren, half das Ablenkungsmanöver nicht mehr: Das Gesundheitsministerium war gezwungen, die offiziellen Corona-Fallzahlen zu justieren.

Tatsächlich stellte sich heraus, dass das Gesundheitsministerium monatelang bei den Angaben getrickst hatte und nur symptomatische Fälle in die Statistik eingeflossen waren. Das so verspielte Vertrauen ist bis heute zu spüren - trotz der nachträglichen Korrektur gibt es Bedenken an der Glaubwürdigkeit der vom Gesundheitsministerium herausgegebenen Corona-Zahlen.