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Das Geheimnis der 5,8 Prozent

Janosch Delcker (New York)5. Dezember 2014

Die Arbeitslosenquote in den USA bleibt auf einem Rekordtief. Trotzdem haben viele Arbeitslose und Geringverdiener das Gefühl, dass die Lage sich nicht bessert. Janosch Delcker war auf Ursachenforschung in New York.

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Symbolbild Arbeitslosigkeit in den USA
Bild: Fotolia/jamdesign

Alicia Hannah wirkt nicht, als ob sie leicht aus der Bahn zu werfen wäre. Sie ist 26 Jahre alt, aufgewachsen in einem Sozialwohnungsbau in Brooklyn, New York. Hannah sagt, sie sei nicht wählerisch, was Arbeit betrifft. Trotzdem hat sie Schwierigkeiten, einen Job zu finden.

"In New York braucht man eine College- oder Berufsausbildung, nicht nur einen einfachen Schulabschluss", erklärt sie. Seit einem Jahr hat sie keine Arbeit. "Die Lage mag sich vielleicht für Leute mit Uni-Abschluss verbessert haben. Aber für uns ist alles unverändert."

Zweifel an den offiziellen Zahlen

Das passt nicht zu dem Eindruck, den die Arbeitslosenraten vermitteln. Denn das US-Arbeitsministerium vermeldet erstaunlich niedrige Zahlen. Im Oktober 2014 fiel die Arbeitslosenquote zum ersten Mal seit der Finanzkrise 2008 unter sechs Prozent. Auch im November verharrte die Quote mit 5,8 Prozent auf diesem Tief.

Aber es gibt gute Gründe, diesen Angaben kritisch gegenüber zu stehen.

Brooklyn Hausmeisterkurs Alicia Hannah (Foto: DW/ Janosch Delcker)
Alicia HannahBild: DW/J. Delcker

Ein Grund hat mit der Qualität der Jobs zu tun. "Die Zahl der geringbezahlten Jobs hat zugenommen", sagt Michelle Holder, Ökonomin am John Jay College of Criminal Justice in New York.

"Präsident Obama spricht darüber, dass wir die Jobs, die wir verloren haben, wieder zurückgewonnen haben", sagt sie, "aber das Problem ist, dass der Großteil dieser Jobs - in Restaurants zum Beispiel - sehr schlecht bezahlt wird. Es sind qualitativ nicht die gleichen Jobs, die wir früher hatten."

Arbeitslosenquote ist nur eine von sechs Arbeitslosenstatistiken

Ein anderer Grund erscheint noch wichtiger - um ihn zu verstehen, lohnt ein Blick hinter die Kulissen.

In den USA gibt es im Gegensatz zu Deutschland keine festen Meldefristen für Arbeitslose. Um an seine Arbeitslosenstatistik zu kommen, macht das US-Arbeitsministerium repräsentative Telefonumfragen in insgesamt 60.000 Haushalten. Auf dieser Grundlage veröffentlicht das Ministerium insgesamt sechs verschiedene "Unterbeschäftigungsquoten" - die offizielle Arbeitslosenquote ist nur eine davon.

Entmutigte Arbeitskräfte

In der Arbeitslosenquote tauchen allerdings nur die Menschen auf, die zwar arbeitslos sind, aber aktiv nach Arbeit suchen und bereit sind zu arbeiten. Sie sagt nichts über Menschen, die offiziell als "nicht Teil der erwerbstätigen Bevölkerung" gelten. Wie beispielsweise die sogenannten "entmutigten Arbeitskräfte". Das sind Menschen, die gar nicht erst nach Arbeit suchen, weil sie glauben, dass für sie sowieso kein Job zu haben ist.

Für viele dieser Menschen sind die Streitkräfte ein Auffangbecken. "Die USA haben bei weitem das größte Militär der Welt. Das Militär fängt Leute auf, die ansonsten arbeitslos wären", erklärt Geert Dhond, Ökonom am John Jay College.

USA Gefängnis in New Orleans Überfüllung (Foto: M. Tama/Getty Images)
Die Gefängnisse in den USA sind überfülltBild: M. Tama/Getty Images

Ein weiteres erwähnenswertes Phänomen: "Die USA haben bei weitem die höchste Zahl von Menschen im Gefängnis", sagt der Experte, "und auch die tauchen nicht in der Arbeitslosenquote auf, obwohl sie keinen Job haben. Deshalb ist die Arbeitslosenquote problematisch", so Dhondt.

Weniger Menschen in Arbeit

Die Zahl der Menschen, die als "nicht Teil der erwerbstätigen Bevölkerung" gelten, ist seit 2008 stetig gestiegen.

Alicia Hannah in Brooklyn zum Beispiel hat seit einem Jahr keinen Job. Sie sagt, dass ihre Familie sie währenddessen unterstützt hat. Ihr Fall taucht in der Arbeitslosenquote nicht auf.

Weil sie selbst nicht aktiv nach Arbeit geschaut hat, wäre sie während dieser Zeit als eine der "entmutigten Arbeiter" in der entsprechenden Statistik aufgetaucht. Auch deren Zahl ist seit der Rezession weiter gestiegen - was gleichzeitig geholfen hat, die Arbeitslosenquote nach unten zu drücken.

Obwohl die Arbeitslosenquote gesunken ist, gibt es im Moment weniger Menschen in den USA als zuvor, die tatsächlich einen Job haben, und gleichzeitig mehr Menschen, die entmutigt aufgegeben haben.

Statistische Unsichtbarkeit

"Sie fallen sozusagen von einer Klippe", sagt Saskia Sassen im DW-Interview in ihrem New Yorker Büro. Die Soziologin ist Professorin an der New Yorker Columbia University. "Statistische Unsichtbarkeit setzt ein", erklärt sie. "Egal, um welche Kategorien es sich handelt - die Menschen fallen aus ihnen heraus."

2014 hat Sassen ihr neuestes Buch "Expulsions" veröffentlicht. Darin beschreibt sie ein Phänomen, das sie als "systemische Schwelle" bezeichnet.

"In den USA haben wir mittlerweile Männer - vor allem Afro-Amerikaner - die 33 oder 35 Jahre alt sind und nie in ihrem Leben einen Job hatten", sagt die Soziologin. "Man kann sie schwerlich als langzeitarbeitslos beschreiben. Sie sind aus dem Markt draußen. Wahrscheinlich werden sie nie einen Job haben."

Brooklyn Worforce Innovations (Foto: DW/Janosch Delcker )
Weiterbildung für Arbeitslose in BrooklynBild: DW/J. Delcker

Der amerikanische Traum

Trotz aller Widrigkeiten lebt der amerikanische Traum vom sozialen Aufstieg - wie dieses Beispiel in Brooklyn zeigt: In einem hell-erleuchteten Klassenzimmer sitzen Alicia Hannah und 27 andere Männer und Frauen um fünf Tische verteilt.

Sie sind Teilnehmer eines Workshops der "Brooklyn Workforce Innovations" in Kooperation mit dem öffentlichen Wohnungsbau-Unternehmen in New York. In einem einmonatigen Kurs werden Bewohner von Sozialwohnungen darin geschult, als Hausmeister zu arbeiten.

In dieser Unterrichtseinheit steht Sozialkompetenz auf dem Lehrplan. Erste Aufgabe ist es, eine SMS an einen potenziellen Vorgesetzten zu schreiben.

Sozialkompetenz auf dem Lehrplan

Nach einigen Minuten präsentiert eine der Gruppen ihr Ergebnis. "Guten Morgen, Wade, hier ist Takkemia. Die U-Bahn ist zehn Minuten zu spät. Ich versuche, baldmöglichst zu kommen und bitte um Entschuldigung", liest eine junge Frau ihren Entwurf vor.

"Das ist sehr gut", sagt Wade, ihr Sozialkompetenz-Dozent.

Die Gruppe jubelt.

"Warum ist es gut?", fragt der Dozent.

"Es ist professionell", ruft einer der Teilnehmer.

"Professionalität" wirkt wie die wertvollste Währung in diesem Klassenzimmer. Wenn etwas gut gemacht ist, ruft die Gruppe anerkennungsvoll "professionell". Ein Fehler gilt entsprechend als "unprofessionell".

Krankenversicherung und bezahlter Urlaub

"Wir geben unseren Teilnehmern das Handwerkszeug, um erfolgreich im Job zu sein", erklärt Emily Nelson, die Leiterin des Kurses. "Wir versuchen, Zeit-Management und einen Sinn für Pünktlichkeit zu trainieren. Wir sprechen über effektive Kommunikation, über Konflikte und wie man sie lösen kann, sowie über Stress-Management."

Viele Absolventen des Workshops werden später in einer Einstiegsposition bei der Wohnungsbau-Gesellschaft übernommen. Diese Anstellungen beinhalten eine Krankenversicherung oder bezahlten Urlaub - Sozialleistungen, die Jobs für Geringqualifizierte in New York normalerweise nicht bieten.

Nachwuchs als Motivator

"Dieses Programm bringt uns weiter", sagt Kursteilnehmerin Alicia Hannah. "Es ist wie ein Sprungbrett."

"Irgendwann will ich Vorarbeiter sein und später dann in einer leitenden Funktion arbeiten - im Prinzip ist alles möglich", fügt ihr Mitschüler Radell Felten hinzu.

Brooklyn Hausmeisterkurs Radell Felton (Foto: DW/Janosch Delcker )
Radell Felton möchte seine Familie ernähren könnenBild: DW/J. Delcker

"Meine Motivation ist mein Sohn", erzählt er. Wie Hannah ist er in einer Sozialwohnung in Brooklyn aufgewachsen und lebt nach wie vor dort. "Ich möchte genug Geld verdienen, um ihn und meine Familie selbst unterhalten zu können."