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Fachkräftemangel: Die endlose Diskussion

Klaus Ulrich
27. April 2019

Wie groß ist der Mangel an qualifizierten Arbeitskräften in Deutschland? Tatsächlich gehen in manchen Branchen die Bewerber für freie Jobs aus. Doch die Probleme sind oft hausgemacht, meinen Experten.

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Arbeiter in einer Gießerei Symbolbild
Facharbeiter in einer GießereiBild: Imago/Westend61

Zuletzt meldete sich der mächtige Arbeitgeberverband BDA zu Wort: Die sogenannte Rente mit 63, bei der Arbeitnehmer entsprechenden Alters nach 45 Berufsjahren ohne Abschläge in den Ruhestand gehen können, sei "eine schwere Hypothek nicht nur für unsere Rentenkasse, sondern auch für unseren Arbeitsmarkt", so BDA-Hauptgeschäftsführer Steffen Kampeter. Der Fachkräftemangel in Deutschland werde "mit einer fehlgeleiteten Rentenpolitik" befeuert.

Die Reaktion aus Gewerkschaftskreisen folgte prompt: Verdi-Chef Frank Bsirske wies die Arbeitgeberkritik zurück: "Ich finde die Entscheidung richtig, die Rente mit 63 zu ermöglichen." Die Alternative wäre, noch mehr Menschen, die hart gearbeitet haben und den Belastungen nicht mehr standhalten können, mit gekürzten Renten und Abschlägen nach Hause zu schicken, sagte er in einem Interview. "Das wäre ungerecht."

Geschenk für Facharbeiter

Das Problem betrifft fast ausschließlich Facharbeiter in Ausbildungsberufen. Menschen, die studiert haben, können in der Regel nicht  von der Regelung der abschlagsfreien Rente profitieren, da Akademiker In der Regel selten vor Mitte 20 ins Berufsleben einsteigen und deshalb kaum auf 45 Berufsjahre kommen können.

Sofort meldete sich auch die Politik zu Wort: Die berufliche Ausbildung werde immer noch zu wenig wertgeschätzt, beeilte sich Bildungsministerin Anja Karliczek (CDU) zu versichern. Um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken, müsse der Nachwuchs für Zukunftsthemen begeistert und optimal ausgebildet werden. "Davon hängt noch mehr die Zukunft ab, als Fachkräfte aus dem Ausland zu gewinnen", sagte die Ministerin. "Für mich gilt: Die Ausbildung in den Betrieben ist genauso viel wert wie an den Universitäten."

"Kein flächendeckender Fachkräftemangel"

"Wir haben keinen flächendeckenden Fachkräftemangel in Deutschland", sagt der Arbeitsmarktexperte Karl Brenke vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) im Gespräch mit der DW. Es gebe zwar Engpässe in einigen Bereichen. Das habe aber unterschiedliche Gründe. Vor allem in Branchen, in den die Geschäfte wegen der guten Konjunktur lange Zeit gelaufen wären, sei der Bedarf an Fachkräften hoch. Aber dort lasse der Druck nach. "Jetzt stehen wir eher vor einer Rezession", so der Experte.

Deutschland Krankenpflege
Im Pflegebereich sind Fachkräfte gefragt wie nieBild: picture-alliance/dpa/Robert B. Fishman

Einen anderen wichtigen Grund für den Mangel sieht Brenke darin, dass in der Vergangenheit zu wenig auf Fachkräfte geachtet worden sei. "Typisch ist der Pflegebereich. Hier hat man schlechte Arbeitsbedingungen geboten sowie niedrige Löhne. Über kurz oder lang hat sich herausgestellt, dass qualifizierte Pflegekräfte fehlten." Ähnliches gelte in manchen Regionen bei Erziehern oder Lehrern. "Das heißt, man hat in der Vergangenheit geschlafen und da gibt es dann eben in manchen Berufen Engpässe." Von einem allgemeinen Mangel könne jedoch nicht die Rede sein.

Arbeitgeber sind nicht konsequent

Mit Inkrafttreten der abschlagsfreien Rente gab es Brenke zufolge mehrere Jahrgänge, die zeitgleich in Rente gehen konnten. Dieser Effekt sei zu Beginn der Reform allerdings größer ausgefallen als zuletzt. Das liege unter anderem daran, dass die Erwerbsquote älterer Arbeitnehmer, die für die Rente mit 63 geeignet wären, in den vergangenen Jahren gestiegen sei. Dadurch würde sich die Zunahme eines Fachkräftemangels etwas relativieren.

"Das läuft sich mittlerweile aus", so Brenke zur DW. Daneben müsse man aber auch berücksichtigen, dass die Argumentation der Arbeitgeberverbände "nicht ganz fair" sei, weil viele Unternehmen beispielsweise Altersteilzeit-Regelungen tarifvertraglich vereinbarten. "Hier haben wir immer noch das Phänomen, dass durch die Altersteilzeit in Deutschland gut qualifizierte Leute vorzeitig in den Ruhestand gehen und das sogar noch steuerlich gefördert wird."

Karl Brenke DIW
Arbeitsmarktexperte Karl Brenke vom DIWBild: Anna Blancke, DIW Berlin

Lohnsteigerungen halten sich in Grenzen

Die Diskussion um den Fachkräftemangel läuft schon seit Jahren. Kritiker argumentieren dabei immer wieder, wenn der Fachkräftemangel wirklich so eklatant wäre, dann müssten in bestimmten Bereichen, nämlich dort, wo der Mangel besonders groß sein soll, die Löhne und Gehälter durch die Decke schießen. Dies ist jedoch nicht zu beobachten.

"Der Arbeitsmarkt funktioniert ja nicht anders als andere Märkte. Wenn bestimmte Güter knapp werden, dann steigen die Preise. Auf dem Arbeitsmarkt müssen das die Löhne sein und das sehen wir nicht", schließt sich Brenke dieser Argumentation an. Die Lohnentwicklung sei zwar nicht mehr so schlecht wie vor zehn Jahren, aber die aktuellen Steigerungsraten der Löhne sprengten nicht den Verteilungsspielraum. "Bei einem ausgeprägten Fachkräftemangel wäre das aber der Fall", so Brenke.

Arbeitsproduktivität sinkt

Außerdem führt der Arbeitsmarktexperte ein oft wenig beachtetest Argument gegen einen "echten" Fachkräftemangel an: Bei einer flächendeckenden Knappheit an Arbeitskräften müsste auch die Arbeitsproduktivität in der deutschen Industrie und den industrienahen Dienstleistungen sehr stark steigen. Denn die Unternehmen würden dann versuchen, das Problem fehlender Fachkräfte durch Rationalisierung in den Griff zu bekommen. "Aber wir sehen genau das Gegenteil. Die Produktivitätssteigerungen in Deutschland werden immer schwächer. Die Unternehmen werden eigentlich, salopp formuliert, immer träger. Das spricht nicht für einen Fachkräftemangel", so Brenke.

Bereits seit längerer Zeit warnen Forscher davor, dass die Produktivität in Deutschland und anderen reichen Industrienationen kaum noch wächst. Dabei ist die Produktivität, also welche Werte jeder Einzelne in einer gegebenen Zeit schafft, ein entscheidender Faktor für den Lebensstandard in einem Land - hochproduktive Volkswirtschaften wie Deutschland haben einen vergleichsweise höheren Lebensstandard als weniger produktive.

Deutschland Symbolbild Fachkräfte im Mittelstand
Fachkraft im Mittelstand: Ohne Spezialisten geht es nichtBild: picture-alliance/dpa/B. Thissen

"Wir haben in Westdeutschland in den 1970er Jahren Produktivitätssteigerungen zwischen drei und vier Prozent pro Jahr gehabt", erinnert Brenke in diesem Zusammenhang. Diese Werte seien auf lediglich 0,7 Prozent deutlich zurückgegangen. In den letzten zwei Jahren hätte es fast gar keine Produktivitätssteigerungen mehr gegeben. "Das kann man sich eigentlich in einer alternden Gesellschaft nicht leisten, hier müssen die Unternehmen innovativer werden", mahnt Brenke.

Unternehmen halten Personal für schlechtere Zeiten vor

Es klingt scheinbar paradox, aber sinkende Produktivitätsraten gehen oft mit höheren Beschäftigtenzahlen einher, wie aus Untersuchungen der Beratungsgesellschaft IW Consult GmbH hervorgeht. Dabei sei es ausgerechnet die Angst vor einem Fachkräftemangel, der die Unternehmen antreibt: Trotz Automatisierung und Rationalisierung beschäftigen sie Mitarbeiter weiter, die sie in früheren Zeiten viel schneller entlassen hätten.

Zusätzlich werden Fachkräfte eingestellt, um die Digitalisierung zu meistern. "In Zeiten des technologischen Übergangs ist das eine normale Entwicklung", sagt IW Consult-Experte Michael Grömling im Gespräch mit der DW. "Die Unternehmen befinden sich in einer Lernphase. Sie horten Personal, um für die zu erwartenden Personalengpässe gerüstet zu sein."