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Politik

Die ersten Bomben fielen auf Wieluń

1. September 2019

An diesem Sonntag vor 80 Jahren, am 1. September 1939, begann der Zweite Weltkrieg. Vor dem Beschuss der Westerplatte bei Danzig zerstörten deutsche Kampfflieger das polnische Wieluń.

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In mehreren Bombenangriffen wurde das Städtchen zu 70 Prozent zerstört
In mehreren Bombenangriffen wurde das Städtchen zu 70 Prozent zerstörtBild: DW

"Aus dem tiefen Schlaf weckten mich die heulenden Töne der Alarmsirene. Anfangs wusste ich nicht, was das war. Ich sprang aus dem Bett, sah meine Eltern auf dem Balkon. Die Mutter sagte zum Vater, dass es wohl ein Probealarm ist. Vater dachte es auch und wunderte sich, dass er zu so einer frühen Stunde kommt", sagt Jan Tyszler, Jahrgang 1933, im Gespräch mit der Deutschen Welle. Tatsächlich fielen Bomben auf Wieluń  - die ersten des Zweiten Weltkriegs.

Ein unerwarteter Angriff

Jan Tyszler erinnert sich zwar, dass Ende August 1939 "der Krieg schon in der Luft hing" und dass davon ständig geredet wurde. Doch dass ausgerechnet seine Stadt zum Angriffsziel der deutschen Luftwaffe werden könnte, hätte niemand gedacht.

Wieluń, heute eine Kreisstadt etwas mehr als 200 Kilometer südwestlich von Warschau gelegen, befand sich 1939 nur 20 Kilometer von der deutschen Grenze entfernt und hatte kaum strategische Bedeutung. Keine Verkehrsknoten, keine Brücke, die man hätte verteidigen müssen. Deshalb waren hier nur wenige polnische Soldaten stationiert.

Das erste Kriegsverbrechen

"Schon bei den ersten Bomben flohen wir auf den Hof nebenan, wo mein Vater, der Schlosser war, eine Autowerkstatt hatte. Dort saßen wir in den Gruben über die die Autos zur Kontrolle fahren. Wir zitterten vor Angst. Am Nachmittag waren wir die einzigen, die ihr Haus noch stehen hatten. Alle anderen Gebäude waren Ruinen." Seine Familie, wie fast alle Überlebenden, verließen die Stadt noch am selben Tag. Als die Wehrmacht in die Stadt einmarschierte, lebten nur noch ein paar Hundert Einwohner in Wieluń.

Polen, Wieluń - Jan und Schwester Maria 1937
Jan und Schwester Maria 1937Bild: privat

Der Luftangriff der 87 Kampfbomber wurde von Wolfram von Richthofen befehligt. Im April 1937 war er als Stabschef der Legion Condor für die Zerstörung der baskischen Stadt Guernica mitverantwortlich, wo Tausende Zivilisten ums Leben kamen. Die damals neue Kriegstaktik des Flächenbombardements, bei dem die zivilen Opfer von Anfang an als Teil der Kriegsführung in Kauf genommen wurden, konnte er nach dem Guernica-Vorbild erneut erproben. Von Richthofen riskierte dabei keine eigenen Verluste. Denn dass das verschlafenen Städtchens, in dem es kaum Militär gab, Widerstand leisten würde, damit war nicht zu rechnen.

Wieluń war das erste Kriegsverbrechen des Zweiten Weltkrieges. In mehreren Bombenangriffen zwischen 4.35 Uhr und 14.00 Uhr wurde das Städtchen zu 70 Prozent zerstört. 1200 von 16.000 Einwohnern kamen ums Leben.

Provokationen vor dem Kriegsausbruch

Dem Angriff auf Polen gingen zahlreiche fingierte Aktionen voraus, mit denen die Propagandamaschinerie des Dritten Reiches Kriegsgründe vortäuschen wollte. Eine der bekanntesten Provokationen war der Überfall auf den deutschen Sender Gleiwitz nahe der polnischen Grenze. Am Nachmittag des 31. August 1939 kamen einige bewaffnete SS-Leute in Zivil zum Sender, um von dort den Aufruf zum angeblichen Aufstand der im Dritten Reich lebenden Polen auszustrahlen.

Andere deutsche Medien berichteten über polnische Rebellen auf deutschem Boden, die angeblich von der polnischen Armee Unterstützung bekamen. So versuchte Hitler seine Soldaten zu mobilisieren und Deutsche als Opfer darzustellen.

Der Angriff auf die Westerplatte

Zehn Minuten nach dem ersten Luftangriff auf Wieluń folgte die Attacke auf die Westerplatte, eine langgestreckte Halbinsel bei Danzig. Hier standen Polen und Deutsche in einem angespannten Verhältnis zueinander. Danzig, überwiegend von Deutschen bewohnt, im Versailler Vertrag nach dem Ersten Weltkrieg zu einer freien Stadt erklärt, war so der Kontrolle des Deutschen Reiches entzogen. Der Hafen, der Zoll und die Eisenbahn befanden sich aber unter polnischer Verwaltung und im Ostseebad Westerplatte hatte Polen ein Munitionslager und Militär stationiert.

Zerstörtes Haus, Wielun
Als die Wehrmacht in die Stadt einmarschierte, lebten nur noch ein paar Hundert Einwohner in WieluńBild: DW

Nach der ersten Attacke auf Wieluń griffen die Deutschen das Munitionslager an. Dem Beschuss vom deutschen Kriegsschiff "Schleswig Holstein" folgten Attacken der "SS-Heimwehr Danzig" und aus der Luft. Der Angriff dauerte eine Woche lang. Während die Opferzahl auf der deutschen Seite auf 3400 geschätzt wird, gab es auf der polnischen Seite nur 15 Gefallene. In Polen wird die Verteidigung der Westerplatte angesichts der überwältigenden militärischen Übermacht des Gegners als Symbol des polnischen Heldentums im Zweiten Weltkrieg verehrt. Seit Jahrzehnten lernen polnische Schulkinder, dass deutsche Offiziere aus Respekt für den unglaublich mutigen Kampf vor polnischen Soldaten salutierten.

Das Gedenken an Wieluń

Danzig und die Westerplatte gelten bis heute symbolisch als Beginn des Krieges. 2009, zum 70. Jahrestag, kamen Wladimir Putin und Angela Merkel. Der damalige polnische Präsident Lech Kaczynski, der kurz zuvor noch vehement gegen die russische Invasion in Georgien protestiert hatte, nutzte die Gelegenheit, um in Anwesenheit des russischen Gastes vor der Wiedergeburt von "neoimperialistischen Tendenzen" zu warnen.

Aktuelle Akzente bei historischen Gedenkfeiern zu setzen, gehört zur Politik der PiS-Regierung. Dass dieses Jahr Polens Präsident am frühen Morgen des 1. September nicht nach Danzig, sondern nach Wieluń gereist ist, wohin auch zum ersten Mal ein deutscher Bundespräsident eingeladen wurde, ist kein Resultat einer Neuentdeckung der Geschichte. Danzig ist eine der letzten Bastionen der Opposition in Polen, daher werden die dortigen Gedenkfeierlichkeiten stark von den Oppositionspolitikern geprägt. Die Westerplatte selbst ist ein Streitthema zwischen der PiS und dem mehrheitlich liberal besetzten Rathaus, weil die PiS den historischen Ort ins Danziger Museum des Zweiten Weltkrieges integriert hat und damit zum weiteren Instrument ihres Kampfes um das Geschichtsbewusstsein der Polen machen will.

Polen, Wieluń - Jan mit Schwester Maria und Eltern 1938
Jan mit Schwester Maria und Eltern 1938Bild: privat

"Mit Sicherheit ist es einfacher, über die Gedenkfeier mit jemandem zu reden, der sich gegenüber den Machtzentren in Polen entgegenkommend zeigt, als mit Personen zu sprechen, die weniger entgegenkommend sind", sagte der Pressesprecher des Präsidenten Blazej Spychalski schon im Frühjahr, als die Entscheidung fiel, den Anfang der Gedenkfeier nach Wieluń zu verlegen. Damit zielte er auf die politische Stimmung in Danzig ab. Die Danziger stehen nach der Ermordung des langjährigen liberalen Bürgermeisters Pawel Adamowicz Anfang 2019 noch immer unter Schock. Mit einem "Entgegenkommen" kann die PiS im nach wie vor weltoffenen Danzig nicht rechnen.

Da der 80. Jahrestag des Kriegsausbruchs mitten in den Wahlkampf vor den Parlamentswahlen im Oktober fällt, will die PiS die Kontrolle über den Verlauf der Feierlichkeiten nicht verlieren. Von Wieluń aus fahren die Politiker nach Warschau, um wieder einen aktuellen Akzent zu setzen. Diesmal wollen sie zeigen, wie wichtig die transatlantischen Beziehungen für Polen sind.

Die Sirenen als Mahnung vor dem Krieg

Jedes Jahr in der Morgendämmerung des 1. September werden die Einwohner von Wieluń mit Alarmsirenen geweckt, die an den Luftangriff vor 80 Jahren erinnern. Jan Tyszler, der damals sechs Jahre alt war und statt die Schule zu besuchen, vor den Bomben fliehen musste, ist jedes Jahr dabei. Auch dieses Jahr kommt er in seine Heimatstadt zurück. Das Haus, in dem er wohnte, steht noch, es wurde als eines der wenigen Gebäude der Stadt von den Bomben verschont.

"Ich möchte, dass wir immer nur diese symbolischen Alarmsirenen und nie mehr die richtigen hören müssen", sagt der heute 86-jährige Pensionär. Der Besuch von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Wieluń sei für ihn eine längst fällige Geste.

Porträt einer Frau mit kurzen blonden Haaren und blauen Augen
Monika Sieradzka DW-Korrespondentin in Warschau