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Die etwas anderen "Russland-Versteher"

Roman Goncharenko15. September 2015

Wer sich über Russland aus Originalquellen informieren möchte, hat neue Möglichkeiten. Auf Dekoder.org werden Übersetzungen russischer Medien angeboten. Ein Schmuckstück des Projekts sind eigene Sachtexte.

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Russland - Demonstration gegen Zensur 13.4.2014 (Foto: EPA/SERGEI ILNITSKY +++(c) dpa - Bildfunk)
Immer wieder demonstrieren Menschen in Moskau gegen ZensurBild: picture-alliance/dpa

Man stelle sich eine Webseite fast ganz ohne Bilder vor. Nur oben und zwischen zwei Textblöcken ist unter einem Sternenhimmel eine verschneite Stadt zu sehen. Ein LKW verrät, dass es Russland ist. Das Anfang September gestartete Online-Projekt Dekoder.org setzt offenbar auf Menschen, die gezielt auf diese Seite kommen - um zu lesen. Und zwar das, was es nirgendwo sonst gibt.

Keine Gegenpropaganda

Das Portal veröffentlicht eigene Deutsch-Übersetzungen davon, was seine Macher für die besten Stücke russischer Publizistik halten. Es sind Artikel der Online-Medien wie Colta.ru oder Slon.ru. Auch renommierte Namen aus dem Bereich Print wie "The New Times", "Nowaja Gaseta" oder "Kommersant" sind dabei. Bei der Auswahl gehe es um russische Medien, die "weder im Staatsbesitz, noch von staatsnahen Oligarchen finanziert" werden, sagt der Berliner Publizist und Projektgründer Martin Krohs im Gespräch mit der DW. Das Grundprinzip lautet: "nicht staatlich, liberal, demokratisch".

Startseite des Internetportals Dekoder (Foto: Dekoder/DW)
Startseite des Internetportals Dekoder.orgBild: Dekoder.org

Auslöser für "Dekoder" sei eine "ganz starke Polarisierung und Emotionalisierung der Debatte" gewesen. "Konkret stört, dass von staatlicher Medienseite in Russland ganz massiv eingegriffen wird", sagt Krohs. Als Beispiele nennt er RT (Russia Today) und einige Printmedien. "Es werden politische Botschaften verbreitet." Doch auch im Westen werde manchmal "nicht ausreichend differenziert" über Russland berichtet, stellt der Publizist fest.

"Dekoder" sei deshalb "eine Art Maschine, die hörbar macht, was hier nicht hörbar ist". Dabei geht es Krohs nicht um eine Konfrontation mit russischen Staatsmedien. "Wir sehen das nicht als Gegenpropaganda", sagt er.

Eine hybride Form der Publizistik

Das Projekt, das aus Spenden finanziert wird, wird von fünf Mitarbeitern und mehreren Freien umgesetzt. Die Übersetzungen werden mit der Zustimmung der Autoren und der Originalmedien veröffentlicht. Politische Themen dominieren. Es geht zum Beispiel um Propagandamacher im russischen Fernsehen, um Prognosen eines möglichen Zerfalls Russlands aber auch Reportagen wie zum Beispiel über russische Straflager. Artikel zu Kultur gebe es dagegen weniger, stellt der Projektmitarbeiter Leonid Klimow, selbst ein Kulturwissenschaftler aus Russland, mit Bedauern fest. Es sei schwierig, in russischen Medien gute Kulturartikel zu finden, die man auch in Deutschland verstehen würde.

Eine Besonderheit des Projekts sind eigene Sachtexte, die deutschen Lesern russische Realitäten erklären. In Artikeln sind Hyperlinks eingebaut. Man erfährt, dass Schnaps aus Eigenproduktion in Russland "Samogon" heißt oder lernt abwertende Bezeichnung für Polizisten - "Menty". In kurzen Enzyklopädie-ähnlichen Texten wird über einflussreiche Journalisten wie Dimitri Kisseljow von der staatlichen Nachrichtenagentur "Rossija Sewodnja" oder "Das weiße Band" als Symbol der oppositionellen Proteste 2011/2012 aufgeklärt.

Solche von Experten geschriebene Hintergrundartikel werden bei "Dekoder" Gnosen genannt. "Nicht Prognosen, nicht Diagnosen, sondern einfach kurz: Gnosen. Von griechisch gnosis (Wissen, Erkenntnis)", heißt es dazu auf der Webseite. Deshalb nennt Krohs sein Projekt "etwas Hybrides", eine Mischung aus Journalismus und Sachportal.

Lesen zwischen den Zeilen

Rund eine Woche nach dem Start sei das Projekt "hervorragend angelaufen" und die Erwartungen übertroffen, freut sich Krohs. "Am Anfang hatten wir innerhalb von 24 Stunden 500 Likes auf Facebook", sagt der Projektgründer. Noch seien es vor allem die Fachleute, die sich für Russland und Osteuropa interessieren. Doch man wolle auch ein breiteres Publikum erreichen, sagt Leonid Klimow. "Unsere Zielgruppe sind Menschen, die wir unter uns "Spiegel-Leser" nennen, also Menschen, die Hintergründe verstehen wollen und nicht nur an oberflächlichen Darstellungen interessiert sind", sagt Klimow.

Der Projektgründer Krohs erinnert in diesem Zusammenhang an das alte Klischee, dass "Russland schwer zu verstehen ist für den Europäer." "Dekoder" sei ein Mittel, mit dem Leser in Deutschland "Russland selber auseinander nehmen können". Gnosen seien das wichtigste Werkzeug dafür.