1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

"Die Flut ist eine Katastrophe der Superlative"

1. September 2010

Fünf Jahre war Marco Obermüller für die Deutsche Welthungerhilfe in Pakistan. Seit einigen Monaten ist er zurück in Deutschland. Mit DW-WORLD.DE spricht er über die Flut, über Krisenmanagement und die Lage der Helfer.

https://p.dw.com/p/P1n8
Marco Obermüller (Foto: Welthungerhilfe)
Marco ObermüllerBild: Deutsche Welthungerhilfe

DW-WORLD.DE: Herr Obermüller, Sie kennen es aus eigener Erfahrung - was können ausländische Hilfsorganisationen überhaupt in so einem Krisengebiet leisten? Was können Sie vor Ort konkret tun?

Marco Obermüller: Wir als Welthungerhilfe und auch die anderen Organisationen konzentrieren uns im Moment primär auf lebenserhaltende Maßnahmen. Wir verteilen Lebensmittel, Hygieneartikel, medizinische Hilfsorganisationen verteilen natürlich vornehmlich Medikamente und kümmern sich um die Gesundheit der Menschen. Das sind die ersten Maßnahmen, die man als Hilfsorganisation zu so einem Zeitpunkt machen kann.

Lange hieß es ja: Wir haben zu wenig Geld, wir brauchen dringend Spenden. Ist das immer noch das eigentliche Problem, oder ist es eher die Hilfe vor Ort?

Nein, das war am Anfang ein Problem. Pakistan ist nicht unbedingt ein Land, für das die Leute sofort spenden. Wir haben allerdings dann - genau wie schon beim letzten Mal - die Erfahrung gemacht, dass die Solidarität unserer Spender sehr, sehr groß ist - entsprechend dem großen Leid im Land. Wir sind dankbar, dass fehlendes Geld nicht mehr das Problem ist. Wir alle kennen die Bilder der Katastrophe, die Wassermassen, die Millionen Flutopfer. Das größte Problem vor Ort lässt sich - bildlich gesprochen - so beschreiben: Man kann ein Handtuch in einer Minute nass machen, aber eben nicht trocken - und das Gleiche gilt bei dieser Katastrophe leider auch.

Die Katastrophe dauert schon seit einem Monat an - und sie wird wohl auch noch weiter andauern, denn wie Sie schon sagen: So schnell kann man das Handtuch nicht trocknen.

Wir reden hier gewissermaßen über eine "Katastrophe der Superlative": Wenn ganze Infrastrukuren zerstört sind, dann ist die Hilfe eben unglaublich schwer. Einige Gebiete sind nur sehr schwer zu erreichen, manche Orte sind im Moment auch für viele komplett unerreichbar. Das ist leider die Realität - trotz aller Anstrengungen von Seiten der NGOs, von Regierungsorganisationen, von internationalen und pakistanischen Hilfsorganisationen.

Wie weit kann die Hilfe der Deutschen Welthungerhilfe konkret gehen? Wie lange müssen Sie vor Ort bleiben, bis eine Situation erreicht ist, in der die Menschen sich wieder selbst helfen können?

Wir hatten uns eigentlich im Februar dieses Jahres aus Pakistan zurückgezogen - weil unser Budget nach dem Erdbeben von 2005 aufgebraucht war. Jetzt haben wir uns entschieden, doch wieder zurück ins Land zu gehen, da die Not so groß ist. Und wir rechnen damit, dass wir mehrere Jahre bleiben werden. Aber ganz unabhängig vom Engagement der Welthungerhilfe: Wir sprechen hier für Pakistan über eine Wiederaufbauphase von fünf, sechs oder sieben Jahren.

Wie beurteilen Sie das Krisenmanagement der lokalen Behörden?

Also ganz ehrlich: Wenn wir in Deutschland mit einer solchen Katastrophe konfrontiert wären, dann wären auch wir überfordert. Das steht außer Frage, denn damit wäre jeder überfordert. Natürlich stehen die pakistanischen Behörden vor einem unglaublichen Berg. Am Anfang lief die Hilfe sehr schleppend an, genau wie die Reaktion der Regierung in Islamabad. Jetzt allerdings sieht die Situation schon anders aus: Das Militär ist beispielsweise sehr involviert, was die Räumung von Straßen betrifft. Aus meiner eigenen Erfahrung kann ich nur sagen, dass das pakistanische Militär sehr gute Arbeit leistet. Wir haben nach dem Erdbeben 2005 Hilfe von dieser Seite erfahren, die keine NGO hätte leisten können, denn keiner von uns hat beispielsweise schweres Räumgerät. Ähnlich war es auch beim Tsunami Ende 2004. Bei der aktuellen Flutkatastrophe reden wir über einen riesigen Landstrich, wir reden über fast 20 Millionen Menschen, und wir müssen uns alle darüber im Klaren sein, dass da im Nachhinein sicher auch einiges sein wird, worüber wir später sagen: Das hätte man vielleicht auch besser machen können. Aber wenn wir ehrlich sind, müssen wir uns eingestehen, dass es keine Regierung gibt, die in Anbetracht dieser Katastrophe eine Lösung aus dem Ärmel geschüttelt hätte.

Im Westen besteht die Angst, dass diese Lücken, die die pakistanischen Behörden zwangsläufig lassen müssen, weil sie mit der Hilfe gar nicht nachkommen können, von Gruppen wie Al Kaida genutzt werden. Man fürchtet, Islamisten könnten versuchen, sich als Katastrophenhelfer zu profilieren, um auf diesem Weg ganz gezielt für ihre Sache zu werben. Für wie konkret halten Sie diese Gefahr?

Wir als Welthungerhilfe haben diese Erfahrung bisher nicht gemacht, und wir haben auch von unseren lokalen Partnerorganisationen oder unseren behördlichen Partnern keine Meldungen diesbezüglich bekommen. Ich kann es natürlich nicht ausschließen, aber selbst im Nordteil des Landes, im Grenzgebiet zu Afghanistan - das ja als sehr anfällig gilt - ist mir in meiner Zeit so etwas nie aufgefallen.

Es gibt sogar Berichte, wonach die Taliban planen, Anschläge auf Hilfsorganisationen zu verüben. Wie ist Ihre Rückmeldung von den Kollegen in Pakistan - fühlen die sich bedroht?

Nein, überhaupt nicht. Ich habe zwar in den Nachrichten davon gehört, aber vor Ort haben wir davon noch nichts mitbekommen. Man kann es natürlich nicht ganz ausschließen, aber es ist nicht so, dass wir uns in irgendeiner Form bedroht fühlen würden. Im Gegenteil: Die Bevölkerung hat uns mit offenen Armen empfangen. Ich habe auch immer wieder gemerkt, dass die Menschen in Pakistan sehr solidarisch sind. Wenn sie jemanden kennen und wissen, was er vor Ort tut und dass er nur gute Absichten hat, dann behandeln sie ihn sehr gut, sind sehr zuvorkommend. Und man wird durch dieses herzliche Verhältnis auch geschützt.

Ist die Debatte um die Taliban also nur eine Pseudo-Diskussion, die nur hier im Westen geführt wird?

Sicherlich ist die Gefahr da, dass Taliban irgendwann irgendetwas tun. Die Frage ist allerdings - und das ist meiner Meinung nach eine Grundsatzdiskussion - was genau die Taliban sind. Ich bin mit diesem Begriff sehr vorsichtig, denn die Bandbreite ist groß. Sie reicht von extrem konservativen Menschen bis hin zu Terroristen. Meine persönlichen Erfahrungen aus den Jahren in Pakistan sind die, dass man auch mit sehr konservativen Menschen reden und einen Zugang zu ihnen finden kann, selbst wenn sie vielleicht andere Wertvorstellungen haben als wir. Und man kann meiner Meinung nach in solchen Fällen auch durchaus in unserem Sinn Hilfe leisten.

Marco Obermüller war fünf Jahre für die Deutsche Welthungerhilfe in Pakistan. Seit Februar 2010 ist er wieder in Deutschland. Im Zuge der Flutkatastrophe wird er bald voraussichtlich zurück nach Pakistan gehen.

Das Gespräch führte Jörg Brunsmann
Redaktion: Thomas Latschan / Esther Broders