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Freundliche Räuber

Aarni Kuoppamäki5. August 2008

Die Kriminalität in Russland nimmt eine erfreuliche Entwicklung. Zum einen sinkt die Zahl der registrierten Straftaten. Zum anderen sind die Verbrecher so nett, dass man sie gar nicht anzeigen mag.

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Mutter hat immer gesagt, ich solle keine Süßigkeiten von Fremden annehmen, und sie hatte Recht. Maks und Vanja bieten mir, nachts um vier an einem dunklen Ufer in St. Petersburg, ein Kaugummi an, und ich akzeptiere. Ihr Bier lehne ich dankend ab, aber wir spazieren gemeinsam am Kanal entlang und reden. Über Mädchen und die Schimpfwörter, die ich kenne; und darüber, dass es Russland eigentlich ganz gut geht in diesem Jahr. Zenit St. Petersburg hat den UEFA-Pokal gewonnen, die Eishockey-Nationalmannschaft die WM und Dima Bilan den Eurovision Song Contest. Eine Dreiviertelstunde später sind wir einander bekannt, und ich lasse Maks seine kranke, besorgte Mutter anrufen.

Schlag ins Gesicht

Aarni Kuoppamäki (Quelle: DW)
Aarni KuoppamäkiBild: DW

"Dein Telefon behalte ich", sagt Maks, groß und kaukasisch. "Wir können uns darüber streiten, aber dann schlagen wir dir ins Gesicht." Der andere, klein, blond und stämmig, zuckt mit den Achseln, wie um zu sagen: ist halt so. Im Jahr 2007 wurden in Russland 45.300 Raube registriert. Das sind 50 Prozent mehr als zu Beginn der statistischen Auswertung 1992, aber rund ein Viertel weniger als noch vor zwei Jahren. Auch die Anzahl der registrierten Straftaten insgesamt ist 2007 nach einem jahrelangen steilen Anstieg erstmals gesunken. Das zeigt: Was die Kriminalität im postsowjetischen Russland anbelangt, ist das Schlimmste überwunden.

Ohne sich bitten zu lassen, gibt Maks mir die SIM-Karte aus meinem Telefon, ehe er es einsteckt. "Was hast du da um den Hals?", fragt Vanja, neidisch auf den Profit seines Komplizen. Es sind die Kopfhörer meines MP3-Spielers. "Komm schon, lass mir meine Musik", sage ich. Sie lassen sie mir. So wie etwa 3000 Rubel Bargeld (umgerechnet 100 Euro) und den tragbaren Computer in meinem Rucksack. Eigentlich haben sie mich ja zusammenschlagen und komplett ausrauben wollen, sagen die beiden. Aber ich sei ein netter Kerl, drum täten sie es nicht.

Bei Anzeige Aufklärung?

25.800 Räuber wurden laut dem staatlichen Statistik-Dienst im vergangenen Jahr in Russland verurteilt. Statistische Verschiebungen mal außer Acht gelassen, wurden somit mindestens 57 Prozent der angezeigten Raube aufgeklärt. In Deutschland ist die Quote niedriger (51,5 Prozent). Warum, wird mir klar, als ich später mit Russen über das Geschehene spreche. "Geh nicht zur Polizei", sagen sie, "die unternimmt eh nichts, wenn es keine Körperverletzung gab." So denken wohl viele. Trotz Russlands größerer Einwohnerzahl werden hier nur etwa halb so viele Straftaten angezeigt wie in Deutschland. Die Höhe der Dunkelziffer lässt sich bestenfalls erahnen.

Die Jungs schütteln mir die Hand. War nett, sagen sie. "Ja, schade nur ums Telefon." Ich biete Maks an, das Handy morgen für 500 Rubel zurück zu kaufen. "Hast Du einen Stift?", fragt er. "Nee, du?" Mit einem Schlüssel ritzt Vanja eine Handynummer in die Fassade des nächsten Hauses. Er müsse Medizin kaufen für seine Mama, sagt Maks, aber wenn er anderswo Geld besorge, gebe er mir das Telefon sogar kostenlos zurück. Als die zwei weg sind, schlottere ich ermattet nach Hause. Aber ich werde den freundlichen Räuber nicht anzeigen. Wo Auge und Zahn intakt sind, gibt es auch nichts heimzuzahlen.