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Die gescheiterten Sieger der Spiele

Ronny Blaschke7. August 2012

Bei Olympia befinden sich Zwergstaaten für wenige Tage auf Augenhöhe mit Industriemächten. Erst Außenseiter wie der Judoka Ricardo Blas aus Guam machen die Unterhaltungsmaschinerie für das Publikum greifbar.

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Guams Judoka Ricardo Blas und Guineas Facinet Keita im Kampf (Foto: AP/dapd)
Bild: dapd

Am meisten freut sich Ricardo Blas auf den Tower und die Kronjuwelen. "Ich möchte alles sehen, bevor ich London verlasse, alles". Es ist keine zwanzig Minuten her, da schied der Judoka in der Klasse über 100 Kilogramm in der zweiten Runde aus dem olympischen Wettbewerb aus. Doch nun steht er in einem blauen Anzug schwitzend vor einem Halbkreis Journalisten in der Interviewzone. Er zeigt das Lächeln eines Verlierers, das es wohl nur bei Olympia zu sehen gibt. "Nicht jeder kann gewinnen: das ist die wichtigste Botschaft Olympias", sagt Blas. "Es überhaupt hierher zu schaffen, ist großartig für jedes Land auf der Welt, für ein kleines Land wie Guam ist es noch wichtiger."

Ricardo Blas stammt aus Guam, die westpazifische Insel hat 185.000 Einwohner. Blas, 25 Jahre alt, wiegt fast 220 Kilogramm. Wenn seine Gegner ihn auf der Matte angreifen, ist das so, als wolle ein Specht einen Baum fällen. Kein Sportler aus Guam hatte es bei Olympia je in eine zweite Runde geschafft. Blas genießt selbst das Scheitern, für die Reporter nimmt er sich Zeit. Er weiß, er wird das lange nicht mehr erleben, vielleicht nie mehr. Von diesen Erinnerungen möchte er viele speichern.

Schlaflos in London

Das Internationale Olympische Komitee vertritt auch in London das Prinzip der Universalität. Selbst die verborgenen Ecken der Welt sollen bei den Spielen mit Athleten vertreten sein. Zwergstaaten wie Palau, Tuvalu oder die Marshall-Inseln befinden sich für wenige Tage auf Augenhöhe mit den Industriemächten. "Dabei sein ist alles" – für sie keine Floskel.

Ricardo Blas war schon 2008 in Peking dabei, damals trug er die blaue Landesflagge ins Stadion, die eine Palme und ein Segelschiff zeigt. Als Kind verabscheute er Judo. Sein Vater, selbst 1988 bei Olympia aktiv und heute Vorsitzender des Olympischen Komitees von Guam, drängte ihn auf die Matte. Ricardo Blas fand Gefallen, verlor seine Scheu, wechselte bald in ein japanisches Judointernat und trainierte zuletzt sechs Stunden am Tag. "Je näher der Wettkampf rückte, desto nervöser wurde Ricardo", sagt sein Trainer Atif Hussein. "Ich bin sicher, dass jeder in Guam die Kämpfe von Ricardo vor dem Fernseher verfolgt hat, er konnte nicht wirklich gut schlafen. Alle Augen seiner Heimat waren auf ihn gerichtet. Das hat ihn unter Druck gesetzt."

Mit der Wildcard auf den letzten Platz

Olympia ist eine Unterhaltungsindustrie, ausgerichtet auf Glamourfiguren. Sprinter Usain Bolt, Basketballer Kobe Bryant, Schwimmer Michael Phelps oder Tennisspieler Roger Federer: Was wären diese Superstars ohne einen Gegenentwurf? Ohne Außenseiter, die ihr letztes Hemd für Olympia geben würden? Die beweisen, dass Sport ohne Körperkult, Medaillenjagd und Interviewphrasen existieren kann? Wenn Superstars die Zuschauer aus ihrem Alltag entheben, holen sie Außenseiter in den Alltag zurück. Sie lassen Olympia greifbar werden. "Damit jedes Land vertreten sein kann, gibt es in einigen Wettbewerben und Sportarten Wildcards für Sportler, die Normen knapp verpasst haben", sagt das langjährige IOC-Mitglied Walther Tröger. "Das ist eines der obersten Gebote."

Es sind oft Momente des Scheiterns, die von Olympia in Erinnerung bleiben. Der britische Skispringer Michael Edwards, genannt Eddie the Eagle, landete bei den Winterspielen 1988 in Calgary mit großem Abstand auf dem letzten Platz. Der Schwimmer Eric Moussambani aus Äquatorialguinea wäre 2000 in Sydney über 100 Meter Freistil fast ertrunken. In London nun wurde Hamadou Djibo Issaka gefeiert, ein Ruderer aus Niger, als letzter kam er im Platzierungsrennen ans Ziel, mit anderthalb Minuten Rückstand auf den Sieger. Nicht wirklich besser erging es der Gewichtheberin Jeniy Tegu Wini von den Salomonen oder dem Judoka Sled Dowabobo von der Insel Nauru. Walther Tröger weiß um ihr Kultpotential, aber auch um ihre politische Kraft: "Die Sportler werfen kleine Staaten über Nacht auf die Weltkarte. Sie fühlen sich aufgehoben."

Nigers Ruderer Hamadou Djibo Issaka lächelt (Foto: AP/dapd)
Ruderer Hamadou Djibo Issaka aus Niger wurde wie ein Olympiasieger gefeiertBild: dapd

"Das beste Land der Welt"

Die US-amerikanischen Basketballer wohnen nicht im olympischen Dorf, vermutlich kämen sie aus dem Autogramme schreiben und Posieren für Fotos nicht mehr heraus. Ricardo Blas aus Guam, der schwerste Athlet der Olympia-Geschichte, von seinen Freunden "kleiner Berg" genannt, hätte sich auch eine Unterschrift abgeholt. Er ist einer von acht Athleten aus Guam. Auch in Rio de Janeiro 2016 würde er gern wieder im Olympischen Dorf empfangen werden, während der Zeremonie die Hymne seines Landes hören und dem Bürgermeister ein Geschenk überreichen.

In den nächsten Tagen will er im Internet schauen, wo in der Welt über ihn berichtet wurde. Seinen Kampf hatte er nach zwei Minuten verloren, die Interviewzone verlässt er nach dreißig Minuten. Ricardo Blas möchte Olympia nicht enden lassen, ein letztes Mal genießt er das Raunen der Zuschauer. "Guam ist das beste Land der Welt. Ich hoffe, Sie werden uns alle besuchen", sagt er zum Abschied. Was nun zählt, sind die Kronjuwelen.