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Horror vacui - die Angst vor der Leere

1. Februar 2010

Kein Schriftsteller, Student, Politiker oder Journalist spricht gerne darüber. Dabei ist der Horror vacui für Schreibende bis heute eine weit verbreitete Berufskrankheit, die eine Karriere ernsthaft gefährden kann.

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Ein Radiergummi der Firma Faber-Castell in Aktion (Foto: dpa)
Ausradiert ...Bild: picture-alliance/ dpa

Jetzt ist es also wieder so weit: ich starre auf den weißen Bildschirm. Meine Finger zucken unschlüssig über der Tastatur. Und?! Nichts. Einfach gar nichts. O nein, nicht schon wieder! Schweiß bricht mir aus. In den Schläfen pocht es. Das gibt es doch nicht! Eben wusste ich doch noch ganz genau, was ich hinschreiben wollte. Und jetzt? Alles weg. Verschluckt. Aufgesogen vom erbarmungslosen Weiß des leeren Computer-Bildschirms, das jeden halbwegs vernünftigen Gedanken sofort auszulöschen scheint. Hektisch blättere ich noch mal meine Unterlagen durch. Doch sie steht vor mir: diese öde krisselige Schneelandschaft eines leeren Blattes, die ich schon wieder nicht überwinden kann.

Massenphänomen Schreibblockade

Immerhin tröstlich, dass ich mit meiner Schreibblockade keineswegs alleine dastehe. Denn, auch wenn es nur die wenigsten Schriftsteller, Journalisten, Manager, Politiker oder Studenten freiwillig zugeben würden: die Angst vor dem weißen Blatt Papier ist in der ansonsten so geschwätzigen Mediengesellschaft von heute durchaus verbreitet. Und je stärker die schriftliche Kommunikation zur Grundvoraussetzung für eine Berufskarriere wird, desto mehr wächst die allgemeine Panik vor der Schreibhemmung. Fast jeden, der nicht nur aus Spaß schreibt, ereilt irgendwann der Horror vacui am Computer, der Schrecken vor der weißen Leere - mal schwächer, mal stärker.

Hermann Hesse (Foto: AP)
In bester Gesellschaft - mit Hermann Hesse ...Bild: AP

Hochkomplexer, neuronaler Prozess

Dabei fällt fast allen Menschen das Reden doch so leicht. Aber Schreiben? Schreiben ist im Gegensatz zum Reden ein höchst komplexer, neuronaler Prozess, den man bei anspruchsvolleren Texten in nicht weniger als dreißig kognitive Einzelprozesse unterteilen kann, die parallel ablaufen. Das haben so genannte „Schreibforscher“ festgestellt. Zu diesen dreißig Teilprozessen gehören klärende Fragen nach der Strukturierung, nach dem Adressaten, der Textart, Grammatik und dem Stil - bis hin zur Korrektur und zur richtigen Formatierung. Kein Wunder, dass bei so vielen Fragen, die sich beim Schreiben automatisch ergeben, viele Schreibende von vornherein kapitulieren – und lieber gleich gar nichts mehr hinschreiben.

Nicht so viel denken

Denn paradoxerweise ist es meistens so, dass der Schreibgehemmte nicht zu wenige Ideen beim Schreiben im Kopf hat. Sondern, ganz im Gegenteil: er hat viel zu viele Gedanken, die sich gegenseitig behindern. Vor lauter Fragen und Zweifeln kollabiert sein neuronales System. Die Folge ist Schreibstau. Oder anders gesagt: Der Schreibgehemmte ist in der Regel einfach zu anspruchsvoll. Statt den sowieso schon hochkomplexen Schreibvorgang durch Untergliederung in Einzelprozesse und Bescheidung auf ein Kernthema möglichst zu vereinfachen, neigt er dazu, sich ständig noch mehr zu überlegen. Ständig noch mehr Material anzusammeln. Und ständig von einem Thema zum nächsten zu wechseln. Am Ende ist sein Gehirn dann so übervoll mit unterschiedlichsten Informationen, dass gar nichts mehr geht.

Akademiker und Schriftsteller befallen

Da die Angst vor dem weißen Blatt Papier viel mit zu großem Anspruchsdenken zu tun hat, finden sich ihre klassischen Opfer entweder an der Uni oder in der Dichterklause. Ungezählt sind die Witze über Studenten, die endlos an ihrer Abschluss- oder Doktorarbeit sitzen. Ungezählt auch die Anekdoten über allzu ehrgeizige Schriftsteller, die Jahre, Jahrzehnte oder gleich für immer verstummten, weil alles andere als die Produktion eines literarischen Meisterwerks für sie nicht in Frage kam.

Schreibmaschine in Ernest Hemingways Haus (Foto: AP)
... und Ernest Hemingway: "Es will einfach nicht wiederkommen."Bild: AP

Hesse, Rilke, Hemingway

Denn, auch wenn Creative-Writing-Lehrer es nicht gerne hören möchten: Schreiben als Kunstwerk ist letztendlich nicht erlernbar und bedarf der Inspiration, respektive: des Musenkusses. Bleibt dieser dauerhaft aus, verfallen manche Schriftsteller in die panische Starre. Hermann Hesse brachte, als er an seinem berühmten Buddha-Roman "Siddharta" arbeitete, anderthalb Jahre lang kein Wort zu Papier, weil ihm die "asketische Erfahrung" seines Helden auf einmal fremd war. Der Dichter Rainer Maria Rilke litt sogar zehn Jahre lang unter einer quälenden Blockade, bis er seine "Duineser Elegien" schließlich 1922 in der vollkommenen Abgeschiedenheit des Walliser Schlösschens Muzot in nur wenigen Tagen rauschhaft niederschrieb. Und Ernest Hemingway unterzog sich sogar einer Elektroschock-Therapie, um seine erloschene Schaffenskraft neu zu beleben. Doch selbst die half nicht. "Es will einfach nicht wiederkommen," klagte Hemmingway seinem Arzt völlig verzweifelt, bevor er sich wenig später das Leben nahm.

Schreiben, ohne an Ziele zu denken

Es gibt zwar bestimmte Techniken, Tricks und Rituale, um der eigenen Inspiration auf die Sprünge zu helfen. Erzwingen aber lässt sich der geniale Funken beim Schreiben nicht. Trotzdem muss man nicht gleich in die Depression vor dem weißen Blatt verfallen. Schließlich werden abseits der Hochliteratur glücklicherweise nirgendwo sonst schriftliche Geniestreiche verlangt. Und selbst diese kommen bevorzugt dann, wenn man sie am wenigsten erwartet. Schreibtrainer raten deswegen dazu, vor dem Schreiben seine Gedanken zu ordnen und dann während des Schreibens möglichst wenig an dessen Gelingen zu denken. Denn, wer beim Schreiben zu viel ans Ergebnis, an die Reaktion anderer oder mögliche Kritik denkt, macht es sich unnötig schwer – und nicht selten alles von vorneherein unmöglich. Und deshalb schnappe ich mir mein Laptop und gehe ins Café, einfach mal drauflos tippen.

Autorin: Gisa Funck

Redaktion: Sabine Oelze