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Die kleinen Wunder von Jerusalem

Thilo Schmidt25. Juni 2005

Jüdische und muslimische Homosexuelle kämpfen in Jerusalem gemeinsam um Gleichberechtigung - und Religiöse beider Lager kämpfen gemeinsam gegen die Schwulenbewegung.

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Gay-Pride Parade in Jerusalem 2004Bild: AP

Das alte Sprichwort "Tel Aviv für die Sünde, Jerusalem für die Vergebung der Sünde" stimmt nicht mehr so ganz: Hoch über der Ben Yehuda-Straße, der Fußgängerzone inmitten Jerusalems weht die Regenbogenfahne, das Symbol der Schwulen- und Lesben-Bewegung. Im dritten Stock eines Mietshauses kämpfen die Aktivisten des "Jerusalem Open House" seit acht Jahren für die Gleichberechtigung von Homosexuellen. Mitten in der Heiligen Stadt, in der oft ultra-orthodoxe Juden und strenggläubige Muslime den Ton angeben. Daphna Stroumssa vom Open House führt durch die Räume: Büros, kleine Bibliotheken und Aufenthaltsräume, kleine Zufluchtsnischen zur Begegnung. "Sichtbar sein", das ist das Hauptziel des Open House. Die Regenbogenfahne weht schon seit Jahren von dem kleinen Balkon, sagt Daphna Stroumssa: "Es gingen Angst und Aufregung um, als wir die Fahne rausgehängt haben. Das ist das Zentrum von Jerusalem hier. Wie würden die Reaktionen sein? Furchterregend. Die Flagge wurde zweimal verbrannt, jemand hat vom Dach aus Benzin verschüttet."

Viel zu verlieren

So sehr die Religion Jerusalem manchmal auch spaltet, so zweitrangig ist sie in den Räumen des Open House. Es gibt Gesprächsrunden für Frauen, Männer, für Jugendliche, für Senioren. Aber auch für Homosexuelle aus konservativen jüdischen oder muslimischen Familien. Denn gerade für die gibt es viel zu verlieren - und deshalb muss so mancher Gesprächskreis auch an geheimen Orten stattfinden. Dem Open House gelingt, was im Nahen Osten sonst kaum jemand schafft: "Ein kleines Wunder ist passiert", meint Daphna Stroumssa. "Es gibt nur wenige Orte hier, wo sich Palästinenser und Juden treffen und reden können. Ich schätze, man kann sie an einer Hand abzählen - wo sich Menschen einfach treffen. Als Menschen."

Konservative Juden und Araber prägen die Atmosphäre und den Alltag Jerusalems. Und deshalb ist schon der eine schwul-lesbische Nachtclub, den es in der Heiligen Stadt gibt, aus Sicht der Homosexuellen eine Errungenschaft: Das "Schoschan", ein schnörkelloser Flachbau. Um die hundert Menschen stehen um den Tresen, bewegen sich auf der Tanzfläche. Szenen, die man in Jerusalem sonst nicht sieht: Zwei junge Männer nehmen sich liebevoll in die Arme. Gerade betritt Noah, ein junger Mann, das Schoschan: "Als Schwuler in Jerusalem zu leben ist nicht einfach. Aber wir arrangieren uns damit. Jeder lebt sein Leben, die Orthodoxen leben ihres, ich das meine. Und das ist gut so."

Brandsatz in den Nachtclub

Bislang unbekannte Täter äußersten auf ihre Art, was sie von dem schwul-lesbischen Nachtclub halten: Vor einiger Zeit flog ein Brandsatz in das Schoschan. Der Anschlag misslang, lediglich der Eingangsbereich wurde beschädigt. Doch bisweilen gebe es auch unerwarteten Besuch, sagt Shimi, einer der Besitzer: "Diverse orthodoxe Juden kommen hierher. Mit den schwarzen Mänteln, den langen Bärten und so weiter. Sogar Rabbis kommen einfach, geben ihre Kippa bei mir an der Bar ab, zünden sich eine Zigarette an und entspannen - interessant zu beobachten: Wir haben keine Fenster, niemand kann reinschauen. Du schleichst dich rein und versteckst dich."

Elli hingegen versteckt sich nicht. Der junge Mann, der sich selbst als orthodoxer Jude sieht, bewegt sich rhythmisch auf der Tanzfläche. Hier im "Schoschan" zeigt er eines seiner zwei Gesichter: das homosexuelle. Gleichzeitig sagt er von sich, er sei sehr gläubig und fügt hinzu: "Ich kann da nicht so ein Problem draus werden lassen, sonst würde ich mir mein Leben zur Last machen und wäre traurig. Das wäre naiv, also habe ich Spaß daran, schwul zu sein. Und Spaß, religiös zu sein."

Im Vergleich mit Tel Aviv, Israels "heimlicher Hauptstadt", weltlich und modern, mag Jerusalem weit zurück liegen. Ein Anfang immerhin sind Schoschan und Open House allemal. Und: Seit vier Jahren gibt es, analog zum Christopher Street Day, in Jerusalem den "Pride" - eine bunte, schwul-lesbische Straßenparade.

Dialog der verfeindeten Feinde

Das Pride-Weltkomitee hatte sogar beschlossen, die zweite internationale Straßenparade "World Pride", im Jahr 2005 in Jerusalem auszurichten. Und schon die Ankündigung des World Pride versetzte in Jerusalem Berge, so Daphna Stroumssa:" Noch ein kleines Wunder ist passiert, religiöse Führer, jüdische, muslimische und christliche der höchsten Ränge, kamen zusammen. Das erste Mal nach Jahren, in denen sie kein Wort miteinander sprachen, nur Hass. Und warum kamen sie zusammen? Sie äußerten sich gemeinsam öffentlich zum World Pride. Natürlich hatten sie nur Schlechtes zu sagen."

So drohte der muslimische Scheich Abed el Salam Menasra auf der Pressekonferenz, "Jerusalem auf den Kopf zu stellen, mitsamt den Juden und Christen", falls es zu der "teuflischen Demonstration" kommen sollte. "Wenn es eines gibt, das wir erreicht haben: Wir haben diese Menschen zusammengebracht", sagt Stroumssa. "Wir haben bewiesen: Menschen, die an völlig verschiedene Dinge glauben, können miteinander reden.

Abgesagt wurde der World Pride 2005 doch - aber aus anderen Gründen. Wegen der Räumung des Gaza-Streifens befürchteten die Organisatoren, nicht mehr für die Sicherheit der Teilnehmer garantieren zu können. Dafür soll die Parade nun im August 2006 stattfinden.