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Die Lasten wird das Volk tragen

Heinrich Bergstresser13. September 2003

Libyen ist wieder Mitglied der Staatengemeinschaft, nachdem der UN-Sicherheitsrat die Sanktionen gegen das Land aufgehoben hat (12.9.). Der Preis, den Libyen zu zahlen hat, ist hoch. Heinrich Bergstresser kommentiert.

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Die Revolution frisst ihre Kinder, auch im ölreichen, aber bevölkerungsarmen Libyen. Diese historisch belegte Erkenntnis trifft auf viele, aber nicht auf alle Revolutionen zu. Das wird das libysche Volk jedoch kaum trösten können, das weder ahnt, geschweige denn weiß, was auf das Land zukommt. Alles was es vielleicht weiß, ist, dass im Zentrum des Jahrzehnte langen Todfeindes USA, weit weg und jenseits des Meeres, eine Entscheidung fällt, die das Land möglicherweise etwas weiter bringt.

Aber auch dies wird in der Bevölkerung eher zur weiteren Verwirrung beitragen. Wie überhaupt die Menschen im Wüstensstaat am Mittelmeer in den vergangenen 34 Jahren durch ein ständiges Wechselbad der Gefühle gegangen sind, ausgelöst durch eine permanente Revolution, deren Nutznießer und einzige Konstante letztlich die Galionsfigur Muammar Gaddafi darstellte. Für das Volk blieb letztlich nichts.

Er begann als Revolutionär, war ein typisches Produkt seiner Zeit. Er wollte die Welt aus den Angeln heben, die er kaum kannte. Er glaubte, das unvollendete Werk Gamal Abdel Nassers vollenden zu können, die arabische Nation zu einen, die feudalen Kräfte hinwegzufegen, den "Blutsaugern", den so genannten "Neo-Imperialisten" den Kampf anzusagen und den Armen und Unterdrückten bei ihrem Emanzipationsprozess beizustehen.

Die Welt als exotische Unterhaltungsware

Die Mischung aus politischer Naivität und Unwissenheit über das wirkliche Kräfteverhältnis in der internationalen Politik führte zu Haltungen und Handlungen, die in der internationalen Diplomatie unbekannt waren. Für westliche Printmedien, die den schönsten Diktator der Welt als exotische Unterhaltungsware schätzten, war Gaddafi aber ein beliebtes Objekt.

Dem eigentlichen Anliegen, ein nicht-entwickeltes, armes Land für das 20. Jahrhundert fit zu machen, half dies nichts - ganz im Gegenteil. Die Unfähigkeit der libyschen Führung, die Welt zumindest ansatzweise zu begreifen, führte vielmehr zu Terror und Selbstzerstörung. Und über Nacht wurde Gaddafi zur Unperson, nicht nur in den USA und Europa, sondern auch in der arabischen Welt und in Afrika. Die Folge: selbstverschuldete Isolation und UN-Sanktionen. Und die zeigten im Fall Libyen - allen Unkenrufen zum Trotz - tatsächlich Wirkung.

Eine neue Generation ist herangewachsen

Der rasante Niedergang des angepeilten Wohlfahrtstaates, gebaut auf Sand, aber überdeckt durchs Erdöl, war nicht mehr zu verschleiern. Der Bevölkerung geht es schlechter als je zuvor. Zwar ist Gaddafi noch immer am Ruder, aber eine neue Generation ist herangewachsen, die anders tickt. Sie hat die Zeichen der Zeit erkannt und weiß, dass sie nur politisch überleben kann, wenn sie sich den internationalen Spielregeln unterwirft. Stellvertretend sei Gaddafis Sohn Saif el Islam angeführt, der bereit war, den Gang nach Canossa anzutreten. Dabei weiß er, dass weder er, sein Vater noch die kleine Führungsclique die Lasten tragen müssen, sondern das bereits geschundene libysche Volk.

Diese Erkenntnis ist bitter, aber Libyen ohne Gaddafi ist auf absehbare Zeit so wenig denkbar wie Palästina ohne Jassir Arafat. Beide existieren, weil die Bevölkerung bislang keine Alternative erkennen und entwickeln konnte. Das ist die Tragik, die das unwissende Volk ertragen muss und ertragen wird, bis die politische Öffnung des Landes neue Strukturen und Optionen schafft.